Solange hatte er sein Leben jetzt schon in den Dienst der Gerechtigkeit gestellt, so lange kämpfte er einen einsamen und erbitterten Kampf gegen jeden Kriminellen, der in seiner Umgebung auftauchte. Doch die Niederlage, die ihm ein schmieriger kleiner Frauenprügler wie Mike Sheridan beigebracht hatte, schien all das geleistete in Frage zu stellen. Welchen Sinn hatte es denn, wenn er all seine Kraft und Zeit investierte, nur damit die Gesetzesbrecher am Ende frei kamen? Irgendwo in der Beweiskette mußte es eine Lücke geben ...
„Ich weiß nicht, Horacio", sagte sein Begleiter zögernd zu ihm. „Das hier ist Calleighs Fall. Wir sollten unsere Finger davon lassen."
„Eben nicht." Horacio richtete sich wieder auf und nahm mit einer bedeutungsschweren Geste seine Sonnenbrille ab. „Wir helfen Calleigh, die vielleicht aufgrund ihres Geschlechtes ein falsches Bild vom Täter hat. Und wir verteidigen unser Revier. Du weißt, wie schnell die Typen vom FBI sind, wenn es um spektakuläre Fälle mit Serienmördern geht, Eric."
Eric Delko seufzte schwer, kreuzte dann die Arme vor der Brust und zuckte mit den Schultern. „Dann tu, was du nicht lassen kannst."
Seit er mit Erics Schwester verheiratet gewesen war, fühlte Horacio sich gerade mit dem Jüngeren verbundener als mit den anderen Tatortermittlern. Immerhin teilten sie beide einen bestimmten Schmerz miteinander, und in ihren Herzen lebte sie weiter ... für immer.
Horacio trat soweit zurück, wie es dank der Verwehungen möglich war und betrachtete das gesamte Areal noch einmal sorgsam.
Nichts!
Es war einfach, als würde der Killer seine Opfer hier nur abladen, um sich ihrer zu entledigen. Und die Tatsache, daß sie, einmal abgesehen von verschiedenen Beruhigungsmitteln und Drogen, absolut nichts an den Leichen der Frauen gefunden hatten, machte es nicht leichter. Der Mörder ging mit soviel Bedacht vor, daß Horacio sich seiner größten Herausforderung gegenüber sah. Zumindest dürfte dieser Täter um einige Klassen zu groß für Calleigh Duquesne sein, wie er befunden hatte.
Horacio zog den Umschlag mit den Tatortfotos aus seinem Sakko, nachdem seine Sonnenbrille endlich wieder auf seiner Nase saß, und betrachtete diese noch einmal eingehend.
Es gab kein Muster. Wer auch immer diese zwölf Frauen getötet hatte, hatte sie weder sexuell noch körperlich gefoltert, sondern es ihnen, ganz im Gegenteil, so bequem wie möglich zu tun versucht. Abgesehen von gewissen Ligaturen durch Fesselungen und kleinen Einstichstellen war nichts zu finden gewesen.
Was wollte dieser Killer? Normalerweise ging es doch immer darum, Frauen zu beherrschen, sich sexuell an ihnen zu vergehen, sie zu verstümmeln und zu entmenschlichen. Aber hier ... ?
Eine helle Kinderstimme schrie, gefolgt von der deutlich dunkleren eines Mannes.
Einen Moment lang wollte Horacio schon weitermachen mit seinen Betrachtungen, dann aber ging ihm auf, daß ihm zumindest die Männerstimme vage bekannt erschien.
„Welcher Vater schleppt denn sein Kind mit zum Jogging?" fragte Eric verblüfft, der von seinem Standort aus eine bessere Sicht auf den Strand hatte.
Das Kind schrie wieder. Ob vor Vergnügen oder aus Angst war nicht wirklich differenzierbar.
Horacio trat neben Eric, der noch immer das Treiben am Strand beobachtete, und sah nun ebenfalls hinunter.
Und tatsächlich, da liefen ein dunkelhaariger Mann und ein kleines Kind, letzteres in einem grünen Joggingdress, nahe der Wasserlinie entlang. Soweit er das von hieraus sehen konnte, war der Mann hochgewachsen, auf jeden Fall um einiges größer als das Kind, das sich erstaunlich gut hielt.
„Verrückte Leute gibt's!" Eric schüttelte verständnislos den Kopf.
In diesem Moment spurtete das Kind plötzlich los und rannte dem Mann im wahrsten Sinne des Wortes schlichtweg davon. Der begann wieder zu rufen, beschleunigte seine Schritte.
War das nicht ... ?
Horacio nahm sich die Brille wieder ab und beobachtete den Mann, der jetzt den Strand hinauflief, dem Kind nach.
Er mochte sich irren, aber er war sich ziemlich sicher, daß er hier gerade Mike Sheridan beobachtete. Jedenfalls sah der Mann ihm erstaunlich ähnlich. Nur was wollte jemand wie Sheridan mit einem Kind? Wurde er auf seine alten Tage etwa noch zum Pädophilen?
Horacio setzte seine Sonnenbrille wieder auf und lächelte verächtlich auf den vermeintlichen Frauenprügler hinunter. Das Kind war währenddessen hinter der künstlichen Düne, die die Ferienhäuser verbarg, verschwunden. Der Mann tat es ihm endlich nach.
Vielleicht hatte er jetzt doch endlich das gegen Sheridan in der Hand, was er brauchte, um diesen feigen Mistkerl wieder hinter Gitter zu bringen.
„Eric, ich glaube, da wartet Arbeit auf uns. Komm mit."
***
Vashtu wollte gerade zur Straße hinauf, um auf den Bus zu warten, mit dem sie in die Innenstadt fahren wollte, um dort John und Jordan zu treffen, als es hinter ihr hupte. Sie zuckte unvermittelt zusammen und drehte sich um, um zur Seite springen zu können, wenn der Fahrer zu aufdringlich wurde. Dann aber riß sie überrascht die Augen auf.
Eine dunkelblaue, sehr teure Limosine mit getönten Scheiben fuhr im absoluten Schrittempo hinter ihr, holte jetzt auf und hielt, als sie auf Höhe des hinteren Fonts war. Die Tür öffnete sich ebenso leise wie der Motor lief.
„Dr. Uruhk, steigen Sie doch ein. Ich kann Sie schnell dorthin bringen lassen, wohin Sie möchten." Dave Sheppard beugte sich vor und winkte ihr mit einer Hand.
Vashtu betrachtete den Wagen, dann beugte sie sich vor und sah in das Innere hinein. Alles war mit hellem Leder bezogen. Der Wagen schien sogar noch neu zu sein, jedenfalls roch er so.
„Mr. Sheppard, dafür, daß Sie der Ausrichter dieser Veranstaltung sind, machen Sie sich ziemlich rar, denken Sie nicht?" fragte sie.
Der Unternehmer nickte mit einem leichten, ironischen Lächeln und sah damit das erste Mal John zumindest ansatzweise ähnlich. „Touché, Dr. Uruhk."
Vashtu sah auf zur Bushaltestelle und zögerte.
Wenn sie ehrlich war, sie hatte noch nie gern die öffentlichen Verkehrsmittel auf der Erde benutzt, es sei denn ganz zu Anfang, als sie noch mit ihrem Skateboard zum Cheyenne-Mountain gefahren war. Wie lange war das jetzt schon her? Fast ein ganzes Leben, wie es ihr erschien. Soviel war geschehen, seit Johns Anwesenheit auf Atlantis sie aus der Stasis geweckt hatte wie diese Prinzessin Dornröschen aus einem Märchen, das sie Jordan schon einige Male vorgelesen hatte. Das Kleine schien gerade diese Geschichte sehr zu mögen, vielleicht wegen der unübersehbaren Parallelen zur Realität ... ?
„Ich würde gern mit Ihnen sprechen, Dr. Uruhk", wandte Sheppard sich wieder an sie und riß sie aus ihren Gedanken.
Was sollte es? Immerhin war das hier Johns Bruder. Außerdem, wenn es sich um das Gespräch handeln sollte, vor dem John sie schon gewarnt hatte, brachte es nichts, schob sie es noch länger auf. Besser die Fronten jetzt klären als sie noch mehr verhärten lassen.
Vashtu stieg in den Wagen und war froh, daß sie heute einen Hosenanzug trug. Auch wenn sie nicht gerade groß war mußte sie hier den Kopf deutlich einziehen und sich bücken, um in den Wagen zu gelangen.
Das Innere der Limosine war durch einige kleine Autolampen erhellt und, wie sie ja schon gesehen hatte, mit hellem Leder bezogen. Außerdem verfügte der Wagen über eine Klimaanlage, die beinahe zu hoch eingestellt war, zumindest nach der feuchten Schwüle draußen.
Dave Sheppard saß ihr gegenüber auf dem Rücksitz, musterte sie jetzt noch einmal von Kopf bis Fuß, ehe er sich zurücklehnte. Der Wagen fuhr so leise an, daß Vashtu es kaum wahrnahm.
„Ich habe über Sie Erkundigungen eingezogen", begann er schließlich.
Ja, das hätte sie sich fast denken können nach dem, was John da angedeutet hatte.
Dave schlug die Beine übereinander und legte seine Hände auf den oberen Oberschenkel. „Interessant. Ihre Akte liest sich wie ein Flickenteppich, der mehr oder weniger hastig zusammengestückelt wurde. Mehr als die Hälfte selbst Ihrer privaten Angaben werden unter Verschluß gehalten, wußten Sie das?"
„Es ist erforderlich", antwortete Vashtu endlich.
Dave neigte leicht den Kopf. „Dennoch aber halten Sie es ebenso für erforderlich, Ihr Kind wegzugeben, Dr. Uruhk? Trotz der Tatsache, die sogar in Ihrer psychologischen Bewertung steht, daß Sie dieses Kind abgöttisch lieben? Welche liebende Mutter gibt freiwillig ihr Kind auf?"
„Ich gebe Jordan nicht auf, ich ermögliche dem Kind eine Zukunft dort, wo diese Zukunft stattfinden wird." Vashtu hörte selbst, wie ihre Stimme immer kühler wurde angesichts der Vorwürfe, die Dave Sheppard da gegen sie erheben wollte.
Und so sah sie es auch. Atlantis und auch Vineta mochten eines Tages wieder verlassen werden von den Menschen, die jeweiligen Sternensysteme sich selbst überlassen. Sie war damals zur Atlantis-Crew gekommen, sie hatte sich der Erde angeschlossen. So schwer es ihr auch fallen mochte, aber sie würde gehen und Vineta verlassen, wenn sie das geregelt hatte, was sie regeln mußte. Welche Chance hätte Jordan in einem solchen Fall? Sollte das Kind den gleichen Eingliederungsprozeß mitmachen, den sie durchlebt hatte? Vielleicht würde für Jordan das ganze sogar noch schwerer dadurch, daß es in Vineta Freunde und Gleichaltrige hatte, mit denen es aufwuchs. Je eher sich ihr Kind also an die Erde gewöhnte, desto leichter würde ein eventueller Abschied aus dem Medusenhaupt fallen, sollte Vineta irgendwann wirklich aufgegeben werden müssen.
„Sie machen nicht viele Umstände", setzte sie noch hinzu und lehnte sich zurück. „John sagte mir, daß es Ihnen bitter aufstößt, daß er und ich ein Kind miteinander haben."
Dave schüttelte leicht den Kopf. „Mich stört es nicht, daß Sie ein Kind haben, Dr. Uruhk. Im Gegenteil sehe ich dieses Kind für mich als Chance an. Mich stört die Tatsache, daß Sie John der Vaterschaft bezichtigen, obwohl sie beide sich nachweislich eineinhalb Jahre nicht gesehen haben zu besagtem Zeitpunkt."
Er hatte also nicht nur in ihre Akte Einblick genommen, sondern auch in die von John und auch von Jordan.
„Ich denke, der Vaterschaftstest hat das eindeutig geklärt", entgegnete sie kühl. „Selbst ich kann einen genetischen Fingerabdruck nicht verändern, Mr. Sheppard. Es gab einen Kontakt während dieser eineinhalb Jahre. Und dieser eine Kontakt reichte."
„Natürlich ..." Daves Stimme klang gönnerhaft. Er musterte sie wieder, zuckte dann mit den Schultern. „Lassen wir das ganze jetzt auf sich beruhen. Sie und auch John behaupten, dieses Kind stamme von ihnen beiden, eine Vaterschaftsuntersuchung hat zumindest bestätigt, daß mein lieber Bruder nicht an sich halten konnte. Jetzt geht es dann also um die Schadensbegrenzung."
Vashtu runzelte die Stirn. „Jordan ist für Sie ein 'Schaden'?" echote sie und fühlte, wie in ihrem Inneren etwas brach. Sie wußte auch was: Die Hoffnung, die beiden Brüder doch noch irgendwie wieder an einen Tisch setzen zu können und sich für ihre Geschwisterschaft auszusprechen. Im Moment mußte sie John mehr als nur recht geben. Dave war in ihren Augen ein Schwein.
„Oh, ich bin sicher, Sie lieben Ihr Kind. Sie vergessen, ich durfte sie drei als Vorzeigefamilie schon bewundern, wenn auch dankbarer Weise nur kurz."
Vashtu beugte sich vor. Ihr Blick wurde kalt. „John hatte mich vorgewarnt, Mr. Sheppard. Er sagte mir, daß Sie versuchen würden, alles in den Dreck zu ziehen was er und ich aufgebaut haben. Ich habe das nicht glauben wollen. Inzwischen aber ..."
„Dr. Uruhk, es ist mir vollkommen gleichgültig, ob Sie sich in den Kopf gesetzt hatten, sich auch noch von mir schwängern zu lassen oder auf sonstetwas spekulieren. Es geht jetzt darum, das Ansehen MEINER Familie zu wahren. Haben Sie das verstanden?"
„Lehnen Sie sich nicht zu weit aus dem Fenster, Mr. Sheppard." Vashtus Stimme klirrte wie Eis.
Dave nickte. „Ich bin natürlich bereit, Sie zu entschädigen. Jordan wird die besten Schulen besuchen, oder selbstverständlich auch mittels Privatlehrer unterrichtet werden, ganz wie Sie es wünschen. Ansonsten aber werden Sie auf dieses Kind verzichten für eine angemessene Aufwandsentschädigung. Sagen wir ... Fünfzehn Millionen? Oder besser zwanzig?"
„Wie bitte?" An ihrem Hals schwoll eine Ader und sie mußte sich beherrschen, nicht sofort auf ihren Gegenüber loszugehen.
Dave lächelte wieder. „Entschuldigen Sie, ich vergaß. John wird Ihnen sicherlich bereits gesagt haben, daß zu diesem Deal auch der Chefsessel bei Genelab gehört. Allerdings fällt es schon recht schwer, Ihnen den Doktor abzunehmen, wenn es nicht einmal eine publizierte Arbeit gibt. Womit haben Sie promoviert?"
„Lassen Sie sich eines gesagt sein, Mr. Sheppard", knurrte Vashtu mühsam beherrscht. Ihre Fingernägel hinterließen weiße Halbmonde in ihren Handflächen und sie zitterte vor Anspannung. „Wenn Sie sich noch einmal erdreisten, mein Kind, meine Arbeit oder auch mich zu beleidigen, werden Sie das bitter bereuen. Ich will kein Geld von Ihnen, ist das klar? Und ich werde sicher nicht nach Genelab gehen. Dort wo ich bin bin ich glücklich ... MIT meinem Kind und MIT John! Und das sind Gefilde, von denen Sie nicht einmal zu träumen wagen, Mr. Sheppard. Also lassen Sie es lieber, ehe etwas passiert, was Sie bereuen würden. Und jetzt lassen Sie mich auf der Stelle aus diesem Wagen!"
„Nicht genug?" Dave hob eine Braue. Im nächsten Moment aber wurde er leichenblaß, als er ihr ins Gesicht sah.
„Das ist die letzte Warnung, Mr. Sheppard. Kommen Sie mir nicht mehr zu nahe!" zischte die Antikerin und starrte ihren Gegenüber mit kalten, gelben Wraithaugen nieder.
***
Sie hatte es geschafft! Sie wußte nicht genau wie, aber sie hatte sich befreien können.
Julie taumelte im Patientenkittel zur Tür, rüttelte kurz an ihr, ehe ihr aufging, daß diese in den Raum hinein öffnete. Langsam zog sie sie einen Spaltweit auf und sah hinaus.
Vor ihren Augen tanzte die Welt und sie konnte nur unscharf sehen. Das Blut in ihren Adern schien sich in flüssiges Feuer verwandelt zu haben, das jeden Atemzug und jede Bewegung schmerzen ließ.
Julie wußte nicht genau, was man ihr gegeben hatte, ebensowenig wie sie wußte, wie lange sie sich schon hier befand. Sie hoffte nur noch, irgendwie heraus zu kommen aus dieser Hölle. Zurück zu Mike und ihn um Verständnis bitten, daß sie nicht wieder zurückkehren konnte in die Klinik und ihre Arbeit damit dann auch noch verlor.
Dazu mußte sie aber zunächst einmal ein Telefon finden. Mike mußte sie abholen, denn, das war Julie klar, sie selbst würde nicht weit kommen, so sehr, wie der Boden unter ihren Füßen wankte.
An der Wand entlang, sich am kühlen Putz abstützend und daran entlanghangelnd taumelte Julie weiter.
Mike würde sicher Verständnis haben, wenn er sie in ihrem jetzigen Zustand sehen würde. Er liebte sie ja ... irgendwie. Und vielleicht hatte die Klage, die sie beide eingereicht hatten, wirklich Erfolg gehabt und sie waren die Polizei und vor allem diesen Caine endlich los.
Der Gang war leer. Aber das war er immer, fiel ihr ein. Zimmer 113 lag in einem nicht genutzten Seitenflügel, wohin sich kaum jemand verirrte. Professor Hehnenburgh hatte für sich und Dr. Shriner ausbedungen, daß nur sie beide hierher kamen, sonst niemand, es sei denn auf direkte Anweisung.
War das die Falle gewesen? Weil Ruth sie angewiesen hatte, Zimmer 113 zu säubern?
Julies Gedanken glitten wieder ab.
Der Atem wurde ihr plötzlich knapp und sie blieb, sich an die Sicherheit versprechende Wand pressend, stehen und japste.
Mike mußte sie abholen. Aber Mike haßte die Everglades. Würde er kommen, wenn sie ihn bat? Sie hoffte es.
Julie tappte endlich weiter, halbblind, weil ihr Blickfeld immer mehr verschwamm.
Was hatte man mit ihr getan?
Wenn sie nur erst hier heraus wäre und in Mikes Armen. Er würde sie trösten können, er würde ihr sicher helfen. Er liebte sie doch ...
Julie taumelte um die Ecke in den belebteren Teil der Klinik hinein. Zumindest sollte dieser Teil belebter sein, aber er war es nicht. Noch immer war sie allein auf dem Gang.
Wo war noch einmal das Schwesternzimmer, damit sie endlich ein Telefon erreichte? Lange würde sie nicht mehr durchhalten ...
„Halt! Stehenbleiben!"
Der Gang war ein Fluß, und dieser Fluß riß Julie mit. Sie taumelte weiter, stöhnte vor Schmerz und Schwäche. Und irgendwo vor ihr ... war ein Schatten.
„Ich sagte stehenbleiben!"
Wie sollte sie anhalten, wenn sie selbst nicht wußte, wie sie sich aus der Strömung des Ganges befreien konnte? Außerdem war sie doch Schwester Julie. Wieso sollte sie anhalten? Es war Dienstende und sie wollte nach Hause, sie wollte zu Mike ...
Der Schuß dröhnte in ihren Ohren, als sie schon zurückgeschleudert wurde.
Julie kam auf den Knien auf und freute sich, daß die Schmerzen so plötzlich vergangen waren. Erst dann ging ihr auf, daß ihr Körper sich eigenartig taub anfühlte.
„... helfen ..."
Sie brach nach hinten weg. Ihre Augen starrten leer zu der leise flackernden Leuchtstoffröhre hinauf, während ihr Körper die Metastasen, die er in den letzten zweiundsiebzig Stunden gebildet hatte, zurückbildete. Sie fühlte den letzten Atem nicht mehr, der ihre Lungen in sich zusammenfallen ließ, während sie wieder zu der Schwester Julie wurde, die sie bis vor drei Tagen gewesen war ...
***
Vashtu stand in der Tür und hatte Tränen in den Augen. Sie wirkte so zart und verletzlich, daß es John schier das Herz brechen wollte.
So kannte er sie am wenigsten. Vashtu spielte immer die Starke, war diejenige, die nicht aufgeben konnte, die weiterkämpfte. Aber der Schlag, den sie im Moment zu verkraften hatte, war deutlich mehr, als sie ertragen konnte. Kein Wunder, ging es doch um ihr Lebenswerk.
John wußte, daß die Antikerin es nie zugeben würde, zumindest nicht in der Öffentlichkeit, vielleicht nicht einmal ihm, Anne oder George gegenüber, den drei Menschen, denen sie am meisten vertraute. Aber die Arbeit, die man ihr endlich ermöglicht hatte in Vineta und ihr dann auch schließlich den so lange verweigerten Doktorgrad einbrachte, den sie sicherlich zu ihrer Zeit inne gehabt hatte, das bedeutete Vashtu viel, fast soviel wie Jordan. Es war mehr als nur das Erbe ihrer Familie, sie blühte auf, wenn sie in ihrem Fach arbeiten konnte.
John, der bis jetzt am Küchentresen gelehnt hatte, stieß sich ab und trat auf die Antikerin zu, um sie fest und sicher zu umarmen und ihr so vielleicht die Stärke wiederzugeben, die sie im Moment verloren hatte.
Warum hatte sie denn auch mit Dave sprechen müssen? Er hatte ihr doch gesagt, was sie erwartete, ließ sie sich mit seinem Bruder ein.
Vashtu lehnte sich schluchzend an ihn, vergrub ihr Gesicht an seiner Brust.
John wiegte sie langsam und gab beruhigende Laute von sich. Er war im Moment mehr als froh, daß Jordan oben im Kinderzimmer war und spielte. Wenn es seine Mutter so aufgelöst sehen würde, davon war er überzeugt, würde das Kleine auch noch beginnen zu weinen. Und zwei waren im Moment ein am Boden Zerstörter zuviel für ihn.
„Ich habe Angst", wisperte Vashtu endlich und blickte mit tränennassen Augen auf.
John streichelte sacht über ihren Rücken. „Wovor?" fragte er leise.
„Davor, daß Dave uns Jordan wegnimmt." Vashtus Lippen zitterten wieder.
John schluckte, schüttelte dann den Kopf. „Das wird er nicht wagen. Dazu muß er erst an mir vorbei. Und das traut er sich nicht."
„Er hat mich doch schon als Rabenmutter abgestempelt. Er zweifelt ja sogar meinen Titel an." Vashtu drückte sich wieder gegen ihn, ihre Schultern bebten, während ihre Fingernägel sich schmerzhaft in seinen Rücken gruben.
„Niemand, der dich kennt, würde dich jemals als Rabenmutter bezeichnen. Vashtu!" John verbiß sich den Schmerz und drückte sie enger an sich. „Laß Dave reden, wenn er will. Er wird nicht weit kommen. Wir haben die besseren Karten, wir sind die Eltern. Jordan wird nichts geschehen, glaube mir."
„Und wenn er mich vor der Welt diskreditiert? Er hat das doch schon angedroht, weil diese verdammte Doktorarbeit nicht veröffentlicht wird."
John dirigierte Vashtu vorsichtig zum Sofa hinüber und drängte sie dann mit sanfter Gewalt, sich zu setzen. Er mußte ihr einfach in die Augen sehen bei diesem Gespräch, es ging nicht anders.
„Pete und ich haben so lange und so hart an dieser verdammten Impfung gearbeitet. Wir wollten Leben retten damit. Und jetzt ..."
„Vashtu, du arbeitest im weiteren Sinne für die Regierung. Das SGC ist direkt dem Präsidenten unterstellt, das weißt du doch. Wenn Dave dich also anschwärzen will, muß er sich erst mit besagtem Präsidenten anlegen, und der steht für genau die Lobby, mit der mein Bruder seine Geschäfte macht. Er wird sich nur selbst das Wasser abgraben, und das wagt er nicht, dazu ist ihm die Firma zu wichtig."
Vashtu schüttelte stumm den Kopf, während weitere, dicke Tränen über ihre Wangen kullerten.
Dave war dabei, ihrer beider Traum von einem zumindest angedeuteten Familienleben zu zerstören, ging John auf. Nicht nur, daß sein Bruder Vashtu in Mißkredit bringen wollte vor der versammelten Fachwelt, nein, er ging sogar noch weiter. Und was auch immer er da vorgebracht hatte, es hatte die Antikerin dermaßen verschreckt, daß sie ihre Welt schon in Scherben sah. Der Schmerz, den sie empfand, war kurz davor, auf ihn überzuspringen durch das emotionale Band. Noch konnte John das ganze blocken, aber wie lange würde ihm das gelingen?
„Keiner wird deine Arbeit schlecht machen, dir deinen Titel wegnehmen oder sogar Jordan. Ich werde das zu verhindern wissen, glaube mir. Wenn Dave mit harten Bandagen kämpfen will, er kennt mich nicht", sagte er mit fester Stimme.
Kannte Dave ihn wirklich nicht? Hatte er nicht vielleicht doch damals ein bißchen mehr von sich preis gegeben als er gewollt hatte, als er nach der Trauerfeier zu ihm gekommen war, um sich mit ihm auszusprechen?
„Ich werde nicht zulassen, daß mein Bruder meine Familie zerstört", fügte er noch hinzu.
Es war gleichgültig. Für ihn zählte, was er hatte, was ihm etwas bedeutete. Und das „Geschäft", wie sein Vater dieses ganze Imperium genannt hatte, über das Familie Sheppard gebot, interessierte ihn nicht einmal am Rande. Er hatte endlich das, was er sich sein ganzes Leben lang gewünscht hatte. Es mochte nicht immer einfach sein, da sie weit voneinander getrennt lebten und er sein Kind nicht so oft sah, wie es ihm lieb gewesen wäre, aber er hatte das, was er immer vermißt hatte: In Vashtu mehr als eine Seelenverwandte, die Frau, die er lieben konnte wie niemanden sonst und mit Jordan das Kind, auf das er nicht mehr gehofft hatte nach all den Turbulenzen in seinem Leben. Er würde jetzt nicht danebenstehen und zusehen, wie sein Bruder wie ein wütender Derwisch kam und ihm genau das wieder nahm, was er und Vashtu in den letzten Jahren so mühevoll aufgebaut hatten.
Vashtu schüttelte unvermittelt den Kopf. „Ich gehe morgen nicht mehr dahin", flüsterte sie heiser.
John seufzte, strich ihr mit einem Finger liebevoll eine Träne von der Wange. „Schlaf erst einmal drüber und beruhige dich", schlug er sanft vor. „Morgen kann das ganze schon vollkommen anders aussehen. Außerdem ... es ist doch nur noch morgen."
„Ich habe dich und Jordan schon viel zu sehr vernachlässigt." Vashtu blickte auf. Ihre dunkelbraunen Augen schwammen in Tränen.
„Du hast uns ganz und gar nicht vernachlässigt." John beugte sich vor und küßte sie sanft auf die Stirn. „Im Gegenteil, du hast mehr Zeit mit uns verbracht als ich zunächst angenommen habe nach der Eröffnung, daß du zur Konferenz möchtest."
Sie sah ihn schweigend an, während er ihr auch noch die anderen Tränen, die feuchte Spuren in ihre Wangen gruben, sacht fortwischte.
„Ich möchte euch nicht verlieren", wisperte sie schließlich. „Ich habe immer darum gekämpft, bei dir und Jordan sein zu können."
John nahm ihr Gesicht in beide Hände und sah sie zärtlich an. „Und du hast bis jetzt alles überlebt, selbst als es wirklich schlimm aussah", flüsterte er. „Und genau darum laß dich jetzt nicht von meinem Bruder ins Bockshorn jagen. Wenn Dave sich die Zähnen an der Regierung ausbeißen will, meinen Segen hat er. Aber er wird weder dir noch Jordan jemals wieder wehtun, das schwöre ich dir." Er beugte sich noch weiter vor und küßte liebevoll ihre warmen Lippen.
„Mummy, Daddy! Guckt doch mal!" schallte in diesem Moment Jordans helle Kinderstimme durch das Ferienhaus.
John zog sich langsam wieder zurück, ein Grinsen auf den Lippen. „Am Timing müssen wir noch arbeiten", sagte er, ehe er sie wieder losließ.
Vashtu wischte sich mit beiden Händen über das Gesicht und nickte. Noch immer brannten Tränen in ihren Augen, doch auch sie lächelte.
„Mummy? Daddy?" Jordan zog beide Worte fast bis zur Unkenntlichkeit in die Länge.
Vashtu wurde unruhig. „Ich möchte nicht, daß Jordan mich so sieht", sagte sie leise. „Ich gehe laufen."
John zögerte, warf einen Blick zum Fenster hinaus. Die Nacht klopfte an das Glas. „Bist du sicher?"
„Hey, ich lebe in einer auseinanderfallenden Galaxie mit künstlich erzeugten Hybridwesen, die meist doppelt so groß sind wie ich. Ich komm schon klar." Vashtu erhob sich, zupfte an ihrer Jogginghose herum, die sie schon den ganzen Abend trug. „In einer Stunde bin ich wieder da. Dann hab ich, denke ich, auch nachgedacht."
„Laß dir Zeit." Jetzt stand auch John auf.
Vashtu ging zur Terrassentür hinüber und schob sie langsam auf. „Warte nicht auf mich, okay?"
„Mummy! Daddy!" Dieses Mal war der Ruf eher ein Singsang.
John sah, wie Vashtu in der Dunkelheit verschwand, dann drehte er sich endlich um und ging zur Treppe.
***
Warum mußte diese verdammte Klinik mitten in der Everglades liegen?
Mike knabberte nervös an seinen Fingernägeln, streckte dann die Hand aus und nahm das Glas, um den Inhalt auf Ex runterzukippen.
Er haßte die Everglades! Er mochte diese gewaltige Natur nicht, die Alligatoren, die Mücken und Stechfliegen, die Aale, die Vögel, das ganze Viehzeugs. Er mochte den fauligen Geruch von brackigem Wasser nicht, nicht die feuchte Schwüle, die dort draußen herrschte. Er mochte auch die Sumpfgaswolken nicht, die unregelmäßig Irrlichter über dem Gebiet tanzen ließen.
Die Everglades, das war Mikes persönliche Hölle. Der Ort, den er am liebsten am anderen Ende der Welt gewußt hätte.
Beim letzten Mal, als er in dieses verdammte Sumpfgebiet hineingeraten war, hatte ihm das die Bekanntschaft mit Caine und eine mehrjährige Haftstrafe eingebracht, nicht zu vergessen eine langwierige Entzündung durch irgendwelche Amöben, die da draußen im Sumpfwasser schwammen und sich auf jeden stürzten, der es wagte, ihnen zu nahe zu kommen.
Als Julie den Job annahm in dieser merkwürdigen Klinik hatte er von seinem geringen Veto-Recht Gebrauch gemacht und sie darüber aufgeklärt, daß, sollte jemals ihr Wagen da draußen verrecken, er sich sicher nicht bereitfinden würde sie abzuholen. Aber das größere Gewicht der nicht gerade schlechten Bezahlung hatte schließlich den Ausschlag gegeben, daß Julie doch den Job als Schwester bei diesen beiden Ärzten annahm.
Julie war auf der Arbeit verschwunden. Er hatte mit Ruth Bloch, der Oberschwester, die ihr die Anweisung gegeben hatte, dieses Zimmer 113 zu säubern, telefoniert. Die hatte sich schon Sorgen gemacht und sich ihrerseits melden wollen, wußte aber offensichtlich auch nichts. Niemand wußte irgendetwas und die Polizei legte die Hände in den Schoß und grinste sich einen.
Mike goß sich noch ein Glas ein.
Die Everglades, dieser gewaltige Sumpf, diese unwirtliche Wildnis, in der er sich immer so klein und unbedeutend wie eine Ameise fühlte. Darum mochte er das Marschland nicht, weil die Sümpfe ihn darauf aufmerksam machten, daß er vergänglich war und nichts zurückbleiben würde von ihm, wenn er in einem der Sumpflöcher verschwand oder gar einem Alligator zum Opfer fiel.
Mike schluckte den billigen Fusel hinunter, ohne ihn zu schmecken, knallte dann das leere Glas hart auf den Tisch.
Julie war noch immer nicht wieder aufgetaucht. Sie hatte sich nicht gemeldet, ihr Auto war angeblich nicht mehr an der Klinik, selbst ihre Sachen waren noch hier. Soviel also zum Thema „sie hat Sie verlassen, Mike!". Nein, nicht Julie. Die kam immer zurück, immer!
Nur dieses Mal nicht, wisperte ihm eine kleine boshafte Stimme zu. Dieses Mal ist sie wirklich weg.
Ja, das war sie wohl ...
Mike wurde die Kehle eng, japsend holte er Atem, griff nach der Flasche.
Zum Teufel mit den Everglades! Zum Teufel mit dieser verdammten Klinik! Zum Teufel mit diesen beiden Medizin-Gurus, die den Indianern einen Teil ihres Landes abgeschwatzt hatten.
Oh ja, die Patienten hatten es einfach. Kaum zwanzig Minuten lag die Klinik vom Casino entfernt. Ein Umstand, der Mike früher einmal amüsiert hatte. Es gab zwar keinen direkten Zugang, weil zwischen den beiden Anlagen Brackland lag, aber ...
Vielleicht war Julie ja in diesem verdammten Casino versumpft.
Nein, rief Mike sich zur Ordnung. Das war eine seiner ersten Anlaufstellen gewesen. Dort war sie nicht.
Er starrte die halbleere Flasche an, nagte wieder an seinen Fingern.
Und dann, von einem Moment auf den anderen, ging ein Ruck durch seinen Körper und er richtete sich auf.
Wenn ihm keiner helfen wollte, dann würde er eben selbst suchen. Auch wenn diese verdammte Klinik in den verfluchten Everglades lag, er würde rausfahren und nach Julie suchen. Genau das, was er die letzten drei Tage nicht getan hatte.
Mike kam, trotz aller innerer Ernüchterung, taumelnd auf die Beine und griff sich seine Wagenschlüssel.
Er würde Julie finden, und sie würde ihn als ihren Helden feiern, davon war er überzeugt.
***
Vashtu joggte den Strand entlang, der nur unzureichend erhellt wurde durch die Sterne und die fernen Lichter der Innenstadt von Miami. Ihre Augen hatten sich mittlerweile recht gut an die ungewohnte Dunkelheit gewöhnt, dennoch verfluchte sie sich selbst dafür, daß sie keine Lampe mitgenommen hatte.
Mittlerweile war es für sie einfach nur ungewohnt, wenn es abends nicht hell genug war, um selbst Zeitung lesen zu können.
Was hatte sie sich nur dabei gedacht? Wieso hatte sie getan, was sie getan hatte? Es hatte ihr doch klar sein müssen, daß Dave ihr daraus einen Strick drehen konnte. Sie hätte es John sagen müssen, aber ... Wenn sie ehrlich war, schämte sie sich dafür, daß sie sich nicht richtig unter Kontrolle gehabt hatte in der Limosine.
Es war einfach ihre schlimmste Angst, mußte sie zugeben. Alles konnte man ihr nehmen, wenn es sein mußte sogar ihre Arbeit. Aber niemand durfte ihr John oder Jordan wegnehmen, niemand! Was man im Medusenhaupt nicht geschafft hatte, keiner ihrer Feinde, weder ihrer persönlichen, noch die Vinetas, das würde sie auch auf der Erde nicht zulassen.
Und doch hatte Dave mehr oder minder direkt gedroht, ihr Jordan wegzunehmen. Er hatte sie bezichtigt, eine billige Hure zu sein, die sich aus purem Kalkül hatte schwängern lassen.
Ihre Augen brannten wieder. Sie mußte blinzeln und redete sich ein, daß es nur die salzige Luft so nahe am Wasser war, auch wenn sie es besser wußte.
Wenn sie sich nur an ihre Schwangerschaft zurückerinnerte, daran, wie sie erfahren hatte, daß sie Johns Kind unter dem Herzen trug. Wenn sie daran dachte, zu was Jordan sie damals gezwungen hatte ... Es wurde ihr immer noch übel.
Anne hatte seit der Geburt mehrmals in Gesprächen betont, daß sie Jordan hätte abtreiben lassen für das, was es damals angerichtet hatte. Doch Vashtu wußte es besser. Sie kannte ihre beste Freundin so gut wie kaum jemand anderen, einmal abgesehen vielleicht von John. Anne hätte sich ebenso wie sie an dieses ungeborene Leben geklammert, wenn sie in der gleichen Situation gewesen wäre.
„Wäre es anders und du ein Mann ..."
Vashtu war es, als stünde sie plötzlich wieder in diesem Park, den Annes Bewußtsein geschaffen hatte, und würde erneut die Hand der anderen halten.
Jordan hatte zwei Mütter, ging ihr auf. Anne war mindestens ebenso an der Erziehung des Kindes beteiligt wie sie als die leibliche Mutter. Und Jordan akzeptierte diese Situation auf eine ganz eigene kindliche Art.
Vashtu wußte, wie sehr das Kind geweint hatte, als diese Sache mit Anne geschah, man hatte ihr berichtet, das Jordan sich damals beinahe die Seele aus dem Leib gebrüllt hatte, als man sie, Vashtu, mit den Irion-Spinnen folterte und das Kleine durch purem Zufall im Kontrollraum gewesen war, als eine neue Forderung einging.
Was hatte sie für ihr Kind riskiert? Seit es Jordan gab, und das wurde Vashtu jetzt erst richtig klar, tat sie, was sie tat, für das Kleine. Anne hatte gemeint, als sie von ihrer Schwangerschaft erfuhr, sie würde nach der Geburt ruhiger und umsichtiger werden. Das war nicht der Fall, und der Antikerin ging endlich auf, warum: Weil es da noch drei andere gab, die auf Jordan achten konnten, wenn ihr etwas zustieß.
Nein, seit das Kind geboren war, tat sie, was sie tun mußte, mit dem Herzen einer Mutter, die ihr Leben geben würde, wenn sie dadurch das ihres Kindes retten konnte. Es mochte stimmen, daß sie längst nicht mehr so waghalsig war wie früher, aber gab es eine Bedrohung, war sie zur Stelle, um zu tun, was sie als ihre Pflicht empfand. Jordan mußte leben, mußte groß werden, erwachsen, würde vielleicht irgendwann selbst Kinder haben, das war alles, was letztendlich zählte. Vashtu war klar, sie würde selbst Vineta riskieren, wenn sie dadurch ihrem Kind helfen konnte.
Wenn sie ehrlich war, im Moment wünschte sie sich wirklich Anne hierher. Nicht, weil John nicht helfen konnte, wahrscheinlich war genau das Gegenteil der Fall. Nein, sie brauchte jedes Quentchen Kraft, das sie bekommen konnte. Und Anne hatte ihr von Anfang an Kraft gegeben durch das Vertrauen, daß sie in sie investierte.
„Wäre es anders und du ein Mann ..."
Das hatte Anne zu ihr gesagt damals, in dieser Traumwelt, in der die zivile Leiterin der Stadt gefangen gewesen war. Vashtu hatte eine Ansteckung riskiert, hatte interveniert, wie und wo sie konnte, um Anne weiter in der Stadt halten zu können. Dabei aber war ihr auch klar geworden, daß es ihr ähnlich ging, wenn auch auf einer anderen Ebene. Anne war der ausgleichende Teil, der Brunnen, aus dem sie Kraft schöpfen konnte, das was sie brauchte, auch für Jordan. Wäre Anne nicht gewesen, trotz der Weigerung, sie an einem Heilmittel für die Erethianer mitarbeiten zu lassen, sie wäre nicht hier, würde nicht von der Fachwelt wahrgenommen und als neuer Stern am Genetikerhimmel gefeiert werden. Hätte Anne die Berichte und Forschungsergebnisse, die sie irgendwo in den Tiefen ihres Rechners vergraben hatte, nicht nach Atlantis und dann zur Erde geschickt, ihr wäre nie der Doktortitel zugesprochen worden, der sie jetzt so stolz machte.
Wäre Anne jetzt hier, ihr würde sicherlich irgendetwas einfallen, ging Vashtu auf. Irgendwie würde sie sie abzulenken wissen und vielleicht wirklich John das Ruder überlassen. Oder sie würde mit ihrem fraulichen Charme, um den Vashtu sie ehrlich beneidete, irgendeinen Verantwortlichen in die Pflicht nehmen als Ritter auf dem weißen Roß, der zur Ehrenrettung der Antikerin angaloppiert kommen würde. Anne würde eine Lösung finden, die ihr nicht die Tränen in die Augen trieb vor Angst.
Ein flackerndes Licht riß die Antikerin aus ihren Gedanken. Sie stoppte und blinzelte in die Nacht die Düne hinauf. War da nicht ein leises Wispern?
Vashtu zögerte, sah kurz auf ihre Uhr hinunter und stellte fest, daß die Stunde, um die sie John gebeten hatte, fast vorbei war. Sie sollte umkehren, nach Jordan sehen und versuchen, diese ganze Sache zu vergessen. Vielleicht hatte sie Dave ja genug eingeschüchtert, daß der nicht einmal in Erwägung zog, noch weiter zu gehen.
Wieder huschte ein greller Lichtfinger durch die Nacht.
Vashtu sah sich kurz am Strand um, doch abgesehen von den stetig auflaufenden Wellen war dieser Teil des Strandes leer.
Was ging da oben vor sich?
Ihre Neugier war geweckt. Tief und schwer stapfend, als würde sie durch frisch gefallenen Schnee laufen, nahm sie die Düne in Angriff und kam mühsam vorwärts. Ein kurzes Stück weiter flatterte etwas in der kühlen Brise vom Ozean her. Wäre es heller gewesen, wäre Vashtu sicherlich die gelbe Färbung des zerrissenen Plastikbandes aufgefallen, sowie der Warndruck: Crime Scene - Do not cross!
Die Stimmen wurden deutlicher, aber sie verstand immer noch kein Wort. Es ging ihr nur auf, daß es sich nur um eine Stimme handelte, die offensichtlich einen Monolog abhielt. Wozu und warum war ihr allerdings nicht klar ... oder besser solange nicht klar, wie sie brauchte, um am Gipfel der Düne anzukommen.
Ein Mann stand, einen Spaten in der Hand, über einer flachen Grube. Und in dieser Grube sah Vashtu etwas gelbliches leuchten, das definitiv kein Sand war.
„Sie?" Entgeistert trat die Antikerin näher, konnte nicht glauben, wen sie sah.
Aber es war wahr: Eine Leiche lag in der flachen Grube, und ein Mann war dabei, eben diese Grube wieder zuzuschaufeln.
Jetzt blickte der Mann auf und begann wie irr zu lächeln. „Dr. Uruhk, wie schön. Ich wollte ohnehin mit Ihnen über Ihren Genpol sprechen. Tom?"
Er war nicht allein!
Das ging Vashtu in dem Moment auf, in dem die Breitseite eines zweiten Spatens ihre Schläfe traf und sie zusammensackte wie eine Marionette, deren Fäden man durchschnitten hatte ...
TBC ...
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