19.08.2012

Meuterei (Teil 1) V

Anne glaubte ihren Augen nicht mehr trauen zu dürfen, als sie, kurze Zeit später, zu dem kleinen Platz vor der Jumper-Base von Vineta kam. Zwei der kleinen Gleiter waren gerade gelandet und entließen nun ihre kostbare Fracht.
Für die Leiterin der verbotenen Stadt war es, als würde ein lang ersehnter Traum endlich in Erfüllung gehen. Sie sah Gesichter, von denen sie sich im stillen bereits verabschiedet hatte, hörte Stimmen, von denen sie geglaubt hatte, sie nie wieder zu hören. Es herrschte eine lockere, glückliche Atmosphäre, selbst die wenigen Militärs, die aus den Jumpern kamen, lächelten, froh, endlich wieder frei zu sein.
Dann aber erhielt Annes Hochstimmung den ersten Dämpfer: Es fehlten einige Gesichter. Gesichter, die sie dringend brauchen würde oder auf die sie sich verlassen hatte: Barnes, Heightmeyer, Grodin. Auch dieser junge Lieutenant, Jason Frederics, war nicht da, sowie einige andere, die für sie bisher immer namenlos geblieben waren.
War es zu der Katastrophe gekommen, mit der sie gerechnet hatte? Ihr fiel auf, daß auch Major Uruhk bis jetzt nicht aufgetaucht war. Doch sie hatte mit hinunter kommen müssen, schon allein weil nur Babbis und sie fähig gewesen waren ...
Letzterer tauchte gerade auf, warf ihr einen kurzen, besorgten Blick zu und ging dann weiter zu dem zweiten Puddlejumper, um in dessen Inneren zu verschwinden.
Anne, der gerade von irgendjemandem die Schulter geklopft wurde, machte sich los und folgte dem jungen Wissenschaftler.
Irgendetwas war passiert, das wußte sie mit absoluter Sicherheit. Irgendetwas ...
Stimmen empfingen sie, als sie die Rampe betrat und in das Innere des Gleiters vordrang. Zwei männliche Stimmen: die von Babbis und die eines anderen, mit dem sie kaum je mehr als ein oder zwei Worte gewechselt hatte: Major Dethman.
„Sie können jetzt nicht umdrehen“, sagte dieser gerade. „Die Aktion wurde entdeckt, ist Ihnen das denn nicht klar? Wenn Sie jetzt zur Prometheus zurückfliegen, werden Sie auch noch gefangen genommen. Allein können Sie da erst einmal gar nichts tun, Major, wirklich nichts. Uns fällt schon etwas ein. Und wenn nicht uns, dann Stephen und Jason.“
„Vashtu, es muß Ihnen doch klar sein, daß das mehr als knapp gerade war“, wandte nun auch Dr. Babbis ein, der, mit dem Rücken zu Anne, in dem schmalen Durchgang zum Cockpit stand. „Bleiben Sie hier. Uns fällt sicher etwas ein.“
„Ich lasse niemanden zurück!“ Die Stimme der Antikerin klang anders als Anne sie je gehört hatte. Verzweifelt und ... resignierend? Es war wie ein Hilferuf, den sie gerade ausgestoßen hatte.
„Das ist gut, aber im Moment wohl das letzte, was wir brauchen könnten“, warf Dethman ein. „Halten Sie sich zurück, Major. Nur einen Moment. Ruhen Sie sich aus und kommen Sie zur Ruhe. Pendergast will Sie, darum hat er dieses ganze Theater doch nur aufgeführt. Er wollte Sie die ganze Zeit wieder zur Prometheus zurücklocken. Jetzt wollen Sie auch noch in seine Falle stolpern, nach allem, was Sie gerade getan haben? Der wird ... Lassen Sie das!“
Anne trat hinter Babbis, sah zu ihm hoch.
Der junge Wissenschaftler wurde rot, als ihm aufging, daß sie an ihm vorbeiwollte. Schnell trat er in das Cockpit.
Anne schob sich an ihm vorbei und sah Vashtu, die noch immer auf dem Pilotensitz saß, die Kontrollen in den Händen. Ihre Gestalt wirkte vollkommen verkrampft und gleichzeitig wie bereit zum Sprung.
„Major Uruhk?“ fragte Anne mit sanfter Stimme, konnte beobachten, wie die Antikerin zusammenzuckte, als sie ihre Stimme hörte.
Dann drehte sie sich um. In ihren großen, sprechenden Augen lag etwas, was Anne dort nie vermutet hätte: Hoffnungslosigkeit.
„Major ...“
Vashtu stand mit einem Ruck auf und nickte. „Ich weiß. Ich räume das Büro.“ Sie warf Dethman einen langen Blick zu, dann drängte sie sich an Anne vorbei und verließ den Jumper.
„Welches Büro?“ fragte der Marine irritiert.
„Sie denkt, Dr. Stross wolle sie bestrafen für die Rettungsaktion“, antwortete Babbis, drehte sich zu Anne um. „Aber das wollten Sie nicht, oder?“
„Nein“, antwortete sie. „Nein, zu beidem. Ich wollte sie nicht bestrafen, und sie räumt das Büro nicht wegen möglicher Repressalien. Sie denkt, jetzt, wo wenigstens ein Rangälterer als sie hier ist, wollte ich sie nicht mehr auf ihrem Posten. Selbst wenn der bisher nur inoffiziell war.“ Sie schüttelte in stummer Verzweiflung den Kopf, plötzlich sicher, daß sie gerade dabei war, die Antikerin vollkommen zu verlieren.
Mit einem Ruck riß sie sich aus diesem Gedanken und wandte sich den beiden Anwesenden zu: „Was genau ist dort oben passiert?“

***

Ein paar Stunden später hockte Vashtu mit angezogenen Knien auf ihrem Bett und starrte vor sich hin in der allgegenwärtigen Dämmerung Vinetas.
Sie hatte versagt! Sie hatte ganz kläglich versagt. Sie hätte sich denken müssen, daß Pendergast ihren Leuten eine Falle stellen würde. Sie hätte das ganze vollkommen anders aufziehen müssen, um Erfolg zu haben und alle heil nach unten zu bringen. Jetzt dagegen ...
Ein leises Läuten durchdrang die Stille ihres Quartiers.
Vashtu warf der Tür einen unwilligen Blick zu, kauerte sich nur noch mehr zusammen, um sich in ihrem Selbstmitleid zu suhlen.
Statt einmal das richtige zu tun, hatte sie ihre Leute, hatte sie Erethianer, ins Verderben geschickt und auch noch die Leben der Eingeschlossenen aufs Spiel gesetzt. Dr. Heightmeyers Leiche würde sie so schnell nicht vergessen. So kurz vor dem Ziel, und dann ...
Wieder läutete es.
Vashtu biß sich auf die Lippen. Einen Moment lang war sie versucht, sich die Ohren zuzuhalten. Konnte man sie denn nicht einmal hier in Ruhe lassen? Sie hatte sich doch schon bis hierher zurückgezogen, um endlich ...
Zum dritten Mal läutete es.
Vashtu zögerte noch einen Moment, dann aber rutschte sie vom Bett herunter und ging zur Tür hinüber. Auf ihren Befehl hin glitt diese in die Wand zurück und ließ das helle Licht vom Gang in ihre Düsternis hereinscheinen.
Ein hochgewachsener Schatten erhob sich vor ihr, hielt ihr etwas hin.
„Ich dachte, wir könnten uns noch einmal in Ruhe unterhalten“, sagte eine bekannte Stimme.
Vashtu runzelte die Stirn. „Peter?“ fragte sie ungläubig.
Warum kam denn ausgerechnet der junge Wissenschaftler zu ihr? Da hatte sie ...
Sie riß sich zusammen. „Was wollen Sie?“
Peter nickte in die Dämmerung ihres Quartiers. „Kann ich reinkommen?“ fragte er. „Ich habe auch etwas mitgebracht. Fragen Sie mich nur nicht, was mich das gekostet hat. Sind die letzten Reserven von Lieutenant Fisher.“ Wieder präsentierte er ihr die zwei Flaschen.
„Bier?“ Verwirrt trat sie zur Seite und ließ ihn passieren, während sie gedanklich das Licht wieder einschaltete. Dann schloß sie die Tür und drehte sich um.
Peter sah sich interessiert in ihrem Privatraum um, und ihr ging auf, daß er bisher noch nie hier gewesen war. Nicht, daß es bis jetzt hier viel zu sehen gab. Sie hatte sich ein paar kleinere Möbel aus leerstehenden Gebäuden besorgt, in der Ecke, unter den großen Fenstern, die hinaus in die Höhle führten, lehnte ihr neues Skateboard, das sie bis jetzt noch nicht ausprobiert hatte.
„Warum ist Ihr Quartier größer als meins?“ Leicht vorwurfsvoll drehte er sich zu ihr um.
Vashtu nickte zu dem Bett, einem Doppelbett. „Weil das hier das Quartier eines Ehepaares war.“ Sie trat näher und griff sich eine der Flaschen, die er jetzt schon die ganze Zeit mit sich herumschleppte. Von einem kleinen Board, das ihre wenigen Kleidungsstücke barg, nahm sie einen Schraubendreher und löste mit seiner Hilfe den Kronkorken. Dann nahm sie einen tiefen Schluck.
Normalerweise bevorzugte sie Root-Beer, aber dieses Mal würde es wohl auch so gehen. Vor allem der Alkohol würde wohl dafür sorgen, daß sie ...
Wieder läutete es.
Vashtu setzte die Flasche ab und drehte sich um. „Was ist hier los?“ fragte sie, während sie schon wieder zur Tür ging und diese öffnete.
Diesmal wartete ein sehr besorgt dreinblickender Sergeant George Dorn davor, hob dann die Hand und legte sie ihr auf die Schulter. „Mädchen, was machst du denn für Sachen?“ wisperte er ihr zärtlich zu.
Vashtu blinzelte.
Eigentlich hatte sie sich in aller Ruhe in ihrem Selbstmitleid suhlen wollen. Doch allmählich ...
„Komm rein. Sieht aus, als würde hier bald eine Party stattfinden“, seufzte sie, hob die Flasche wieder an die Lippen und nahm einen weiteren Schluck.
Dorn humpelte an ihr vorbei, ließ sich dann in einen der kleinen Sessel vor dem Fenster nieder und stützte sein Kinn sinnend auf die Krücke.
Vashtu betrachtete die beiden ungleichen Männer. Unwillkürlich mußte sie schlucken, als sie sich an andere, ihr jetzt sehr viel glücklicher erscheinende Zeiten, erinnerte.
„Auf die Reste von SG-27!“ Voll bitterem Hohn schwenkte sie die Flasche, doch trinken konnte sie nicht. Statt dessen ließ sie den Kopf sinken und fuhr sich mit der freien Hand durch ihren wirren Haarschopf.
„Ich denke, wir haben heute ganz gute Arbeit geleistet“, sagte Peter endlich, als ihm die Stille wohl zu drückend wurde.
Vashtu biß sich auf die Lippen und schüttelte den Kopf.
„Bis auf ... naja, wir haben alle unten“, fuhr er fort.
„Nicht alle“, wisperte sie.
„Du hast getan, was du konntest, Vash“, sagte jetzt Dorn mit fester Stimme. „Wolltest du Pendergast auch noch in sein Netz laufen?“
Sie stellte die Bierflasche auf dem kleinen Board ab und stützte sich dann schwer mit beiden Händen darauf.
„Habe mit Dethman gesprochen. Pendergast hatte dir eine Falle gestellt. Der ganze Aufwand war wegen dir inzeniert worden. Du hast ihn an der Nase herumgeführt und doch mehr geschafft“, fuhr Dorn fort.
„Und den Rest ... die anderen holen wir auch noch - irgendwie!“ begehrte Peter, plötzlich kämpferisch, auf.
Ein bitteres Lachen stieg aus Vashtus Kehle auf. „Werden wir nicht“, entgegnete sie mit leiser Stimme. „Das wird Pendergast nicht zulassen. Wir hätten von Anfang an auf ...“
Erneutes Läuten unterbrach sie, ließ sie stirnrunzelnd zur Tür blicken. Dann richtete sie sich kopfschüttelnd wieder auf und öffnete. Um sehr erstaunt zu blinzeln.
„Dr. Stross! Anne!“ entfuhr es ihr.
Die Blonde lächelte, präsentierte ihr wieder zwei Flaschen Bier. „Ich hörte, Sie würden ab und an gern einmal eine Flasche trinken. Da dachte ich ...“ Ihr Blick fiel auf die Reste von SG-27, die bereits in dem Quartier versammelt waren. „Ich scheine nicht vollkommen allein mit meinem Gedanken gewesen zu sein.“
Vashtu sah über die Schulter nach hinten, dann trat sie schulterzuckend zur Seite. „Lassen Sie mich raten: Lieutenant Fisher?“ fragte sie mit einem Nicken zu den beiden Flaschen.
Anne nickte und lächelte sie entschuldigend an.
„Naja, jetzt hat zumindest jeder eine, und Fisher bestimmt das Geschäft seines Lebens gemacht.“ Vashtu lehnte sich gegen die geschlossene Tür und kreuzte die Arme vor der Brust. „Und was soll dieses Überfallkommando? Kommen noch mehr oder ... ?“
Als Antwort läutete es wieder.
Vashtu schüttelte den Kopf, stieß sich von der Tür ab und öffnete erneut.
Irgendwie wunderte es sie nicht im geringsten, jetzt Lieutenant Markham auf der Schwelle zu ihrem Quartier zu sehen. Ein wenig überrascht aber war sie, Andrea Walsh ebenfalls dort zu finden. Die Technikerin sah sie etwas verschämt an - und beide hatten sie Bierflaschen in der Hand.
„Ich denke, George, du solltest dir Fisher mal vornehmen. Soviel Bier, wie er offensichtlich irgendwo gebunkert hat ...“
Vashtu trat zur Seite und fragte sich, ob und wer sie jetzt wohl noch aufsuchen würde. Einer jedenfalls fehlte fehlte ihr: Danea. Doch der saß in der Prometheus mit Barnes und Grodin und wartete darauf, daß sie ihn dort herausholte.
Vashtu schluckte den Kloß, der ihr in die Kehle steigen wollte, wieder hinunter, linste mit langem Hals den Gang hoch und runter und schloß dann die Tür.

TBC...

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