Anne glaubte ihren Augen nicht mehr
trauen zu dürfen, als sie, kurze Zeit später, zu dem kleinen Platz
vor der Jumper-Base von Vineta kam. Zwei der kleinen Gleiter waren
gerade gelandet und entließen nun ihre kostbare Fracht.
Für die Leiterin der verbotenen Stadt
war es, als würde ein lang ersehnter Traum endlich in Erfüllung
gehen. Sie sah Gesichter, von denen sie sich im stillen bereits
verabschiedet hatte, hörte Stimmen, von denen sie geglaubt hatte,
sie nie wieder zu hören. Es herrschte eine lockere, glückliche
Atmosphäre, selbst die wenigen Militärs, die aus den Jumpern kamen,
lächelten, froh, endlich wieder frei zu sein.
Dann aber erhielt Annes Hochstimmung
den ersten Dämpfer: Es fehlten einige Gesichter. Gesichter, die sie
dringend brauchen würde oder auf die sie sich verlassen hatte:
Barnes, Heightmeyer, Grodin. Auch dieser junge Lieutenant, Jason
Frederics, war nicht da, sowie einige andere, die für sie bisher
immer namenlos geblieben waren.
War es zu der Katastrophe gekommen, mit
der sie gerechnet hatte? Ihr fiel auf, daß auch Major Uruhk bis
jetzt nicht aufgetaucht war. Doch sie hatte mit hinunter kommen
müssen, schon allein weil nur Babbis und sie fähig gewesen waren
...
Letzterer tauchte gerade auf, warf ihr
einen kurzen, besorgten Blick zu und ging dann weiter zu dem zweiten
Puddlejumper, um in dessen Inneren zu verschwinden.
Anne, der gerade von irgendjemandem die
Schulter geklopft wurde, machte sich los und folgte dem jungen
Wissenschaftler.
Irgendetwas war passiert, das wußte
sie mit absoluter Sicherheit. Irgendetwas ...
Stimmen empfingen sie, als sie die
Rampe betrat und in das Innere des Gleiters vordrang. Zwei männliche
Stimmen: die von Babbis und die eines anderen, mit dem sie kaum je
mehr als ein oder zwei Worte gewechselt hatte: Major Dethman.
„Sie können jetzt nicht umdrehen“,
sagte dieser gerade. „Die Aktion wurde entdeckt, ist Ihnen das denn
nicht klar? Wenn Sie jetzt zur Prometheus zurückfliegen, werden Sie
auch noch gefangen genommen. Allein können Sie da erst einmal gar
nichts tun, Major, wirklich nichts. Uns fällt schon etwas ein. Und
wenn nicht uns, dann Stephen und Jason.“
„Vashtu, es muß Ihnen doch klar
sein, daß das mehr als knapp gerade war“, wandte nun auch Dr.
Babbis ein, der, mit dem Rücken zu Anne, in dem schmalen Durchgang
zum Cockpit stand. „Bleiben Sie hier. Uns fällt sicher etwas ein.“
„Ich lasse niemanden zurück!“ Die
Stimme der Antikerin klang anders als Anne sie je gehört hatte.
Verzweifelt und ... resignierend? Es war wie ein Hilferuf, den sie
gerade ausgestoßen hatte.
„Das ist gut, aber im Moment wohl das
letzte, was wir brauchen könnten“, warf Dethman ein. „Halten Sie
sich zurück, Major. Nur einen Moment. Ruhen Sie sich aus und kommen
Sie zur Ruhe. Pendergast will Sie, darum hat er dieses ganze Theater
doch nur aufgeführt. Er wollte Sie die ganze Zeit wieder zur
Prometheus zurücklocken. Jetzt wollen Sie auch noch in seine Falle
stolpern, nach allem, was Sie gerade getan haben? Der wird ... Lassen
Sie das!“
Anne trat hinter Babbis, sah zu ihm
hoch.
Der junge Wissenschaftler wurde rot,
als ihm aufging, daß sie an ihm vorbeiwollte. Schnell trat er in das
Cockpit.
Anne schob sich an ihm vorbei und sah
Vashtu, die noch immer auf dem Pilotensitz saß, die Kontrollen in
den Händen. Ihre Gestalt wirkte vollkommen verkrampft und
gleichzeitig wie bereit zum Sprung.
„Major Uruhk?“ fragte Anne mit
sanfter Stimme, konnte beobachten, wie die Antikerin zusammenzuckte,
als sie ihre Stimme hörte.
Dann drehte sie sich um. In ihren
großen, sprechenden Augen lag etwas, was Anne dort nie vermutet
hätte: Hoffnungslosigkeit.
„Major ...“
Vashtu stand mit einem Ruck auf und
nickte. „Ich weiß. Ich räume das Büro.“ Sie warf Dethman einen
langen Blick zu, dann drängte sie sich an Anne vorbei und verließ
den Jumper.
„Welches Büro?“ fragte der Marine
irritiert.
„Sie denkt, Dr. Stross wolle sie
bestrafen für die Rettungsaktion“, antwortete Babbis, drehte sich
zu Anne um. „Aber das wollten Sie nicht, oder?“
„Nein“, antwortete sie. „Nein, zu
beidem. Ich wollte sie nicht bestrafen, und sie räumt das Büro
nicht wegen möglicher Repressalien. Sie denkt, jetzt, wo wenigstens
ein Rangälterer als sie hier ist, wollte ich sie nicht mehr auf
ihrem Posten. Selbst wenn der bisher nur inoffiziell war.“ Sie
schüttelte in stummer Verzweiflung den Kopf, plötzlich sicher, daß
sie gerade dabei war, die Antikerin vollkommen zu verlieren.
Mit einem Ruck riß sie sich aus diesem
Gedanken und wandte sich den beiden Anwesenden zu: „Was genau ist
dort oben passiert?“
***
Ein paar Stunden später hockte Vashtu
mit angezogenen Knien auf ihrem Bett und starrte vor sich hin in der
allgegenwärtigen Dämmerung Vinetas.
Sie hatte versagt! Sie hatte ganz
kläglich versagt. Sie hätte sich denken müssen, daß Pendergast
ihren Leuten eine Falle stellen würde. Sie hätte das ganze
vollkommen anders aufziehen müssen, um Erfolg zu haben und alle heil
nach unten zu bringen. Jetzt dagegen ...
Ein leises Läuten durchdrang die
Stille ihres Quartiers.
Vashtu warf der Tür einen unwilligen
Blick zu, kauerte sich nur noch mehr zusammen, um sich in ihrem
Selbstmitleid zu suhlen.
Statt einmal das richtige zu tun, hatte
sie ihre Leute, hatte sie Erethianer, ins Verderben geschickt und
auch noch die Leben der Eingeschlossenen aufs Spiel gesetzt. Dr.
Heightmeyers Leiche würde sie so schnell nicht vergessen. So kurz
vor dem Ziel, und dann ...
Wieder läutete es.
Vashtu biß sich auf die Lippen. Einen
Moment lang war sie versucht, sich die Ohren zuzuhalten. Konnte man
sie denn nicht einmal hier in Ruhe lassen? Sie hatte sich doch schon
bis hierher zurückgezogen, um endlich ...
Zum dritten Mal läutete es.
Vashtu zögerte noch einen Moment, dann
aber rutschte sie vom Bett herunter und ging zur Tür hinüber. Auf
ihren Befehl hin glitt diese in die Wand zurück und ließ das helle
Licht vom Gang in ihre Düsternis hereinscheinen.
Ein hochgewachsener Schatten erhob sich
vor ihr, hielt ihr etwas hin.
„Ich dachte, wir könnten uns noch
einmal in Ruhe unterhalten“, sagte eine bekannte Stimme.
Vashtu runzelte die Stirn. „Peter?“
fragte sie ungläubig.
Warum kam denn ausgerechnet der junge
Wissenschaftler zu ihr? Da hatte sie ...
Sie riß sich zusammen. „Was wollen
Sie?“
Peter nickte in die Dämmerung ihres
Quartiers. „Kann ich reinkommen?“ fragte er. „Ich habe auch
etwas mitgebracht. Fragen Sie mich nur nicht, was mich das gekostet
hat. Sind die letzten Reserven von Lieutenant Fisher.“ Wieder
präsentierte er ihr die zwei Flaschen.
„Bier?“ Verwirrt trat sie zur Seite
und ließ ihn passieren, während sie gedanklich das Licht wieder
einschaltete. Dann schloß sie die Tür und drehte sich um.
Peter sah sich interessiert in ihrem
Privatraum um, und ihr ging auf, daß er bisher noch nie hier gewesen
war. Nicht, daß es bis jetzt hier viel zu sehen gab. Sie hatte sich
ein paar kleinere Möbel aus leerstehenden Gebäuden besorgt, in der
Ecke, unter den großen Fenstern, die hinaus in die Höhle führten,
lehnte ihr neues Skateboard, das sie bis jetzt noch nicht ausprobiert
hatte.
„Warum ist Ihr Quartier größer als
meins?“ Leicht vorwurfsvoll drehte er sich zu ihr um.
Vashtu nickte zu dem Bett, einem
Doppelbett. „Weil das hier das Quartier eines Ehepaares war.“ Sie
trat näher und griff sich eine der Flaschen, die er jetzt schon die
ganze Zeit mit sich herumschleppte. Von einem kleinen Board, das ihre
wenigen Kleidungsstücke barg, nahm sie einen Schraubendreher und
löste mit seiner Hilfe den Kronkorken. Dann nahm sie einen tiefen
Schluck.
Normalerweise bevorzugte sie Root-Beer,
aber dieses Mal würde es wohl auch so gehen. Vor allem der Alkohol
würde wohl dafür sorgen, daß sie ...
Wieder läutete es.
Vashtu setzte die Flasche ab und drehte
sich um. „Was ist hier los?“ fragte sie, während sie schon
wieder zur Tür ging und diese öffnete.
Diesmal wartete ein sehr besorgt
dreinblickender Sergeant George Dorn davor, hob dann die Hand und
legte sie ihr auf die Schulter. „Mädchen, was machst du denn für
Sachen?“ wisperte er ihr zärtlich zu.
Vashtu blinzelte.
Eigentlich hatte sie sich in aller Ruhe
in ihrem Selbstmitleid suhlen wollen. Doch allmählich ...
„Komm rein. Sieht aus, als würde
hier bald eine Party stattfinden“, seufzte sie, hob die Flasche
wieder an die Lippen und nahm einen weiteren Schluck.
Dorn humpelte an ihr vorbei, ließ sich
dann in einen der kleinen Sessel vor dem Fenster nieder und stützte
sein Kinn sinnend auf die Krücke.
Vashtu betrachtete die beiden
ungleichen Männer. Unwillkürlich mußte sie schlucken, als sie sich
an andere, ihr jetzt sehr viel glücklicher erscheinende Zeiten,
erinnerte.
„Auf die Reste von SG-27!“ Voll
bitterem Hohn schwenkte sie die Flasche, doch trinken konnte sie
nicht. Statt dessen ließ sie den Kopf sinken und fuhr sich mit der
freien Hand durch ihren wirren Haarschopf.
„Ich denke, wir haben heute ganz gute
Arbeit geleistet“, sagte Peter endlich, als ihm die Stille wohl zu
drückend wurde.
Vashtu biß sich auf die Lippen und
schüttelte den Kopf.
„Bis auf ... naja, wir haben alle
unten“, fuhr er fort.
„Nicht alle“, wisperte sie.
„Du hast getan, was du konntest,
Vash“, sagte jetzt Dorn mit fester Stimme. „Wolltest du
Pendergast auch noch in sein Netz laufen?“
Sie stellte die Bierflasche auf dem
kleinen Board ab und stützte sich dann schwer mit beiden Händen
darauf.
„Habe mit Dethman gesprochen.
Pendergast hatte dir eine Falle gestellt. Der ganze Aufwand war wegen
dir inzeniert worden. Du hast ihn an der Nase herumgeführt und doch
mehr geschafft“, fuhr Dorn fort.
„Und den Rest ... die anderen holen
wir auch noch - irgendwie!“ begehrte Peter, plötzlich kämpferisch,
auf.
Ein bitteres Lachen stieg aus Vashtus
Kehle auf. „Werden wir nicht“, entgegnete sie mit leiser Stimme.
„Das wird Pendergast nicht zulassen. Wir hätten von Anfang an auf
...“
Erneutes Läuten unterbrach sie, ließ
sie stirnrunzelnd zur Tür blicken. Dann richtete sie sich
kopfschüttelnd wieder auf und öffnete. Um sehr erstaunt zu
blinzeln.
„Dr. Stross! Anne!“ entfuhr es ihr.
Die Blonde lächelte, präsentierte ihr
wieder zwei Flaschen Bier. „Ich hörte, Sie würden ab und an gern
einmal eine Flasche trinken. Da dachte ich ...“ Ihr Blick fiel auf
die Reste von SG-27, die bereits in dem Quartier versammelt waren.
„Ich scheine nicht vollkommen allein mit meinem Gedanken gewesen zu
sein.“
Vashtu sah über die Schulter nach
hinten, dann trat sie schulterzuckend zur Seite. „Lassen Sie mich
raten: Lieutenant Fisher?“ fragte sie mit einem Nicken zu den
beiden Flaschen.
Anne nickte und lächelte sie
entschuldigend an.
„Naja, jetzt hat zumindest jeder
eine, und Fisher bestimmt das Geschäft seines Lebens gemacht.“
Vashtu lehnte sich gegen die geschlossene Tür und kreuzte die Arme
vor der Brust. „Und was soll dieses Überfallkommando? Kommen noch
mehr oder ... ?“
Als Antwort läutete es wieder.
Vashtu schüttelte den Kopf, stieß
sich von der Tür ab und öffnete erneut.
Irgendwie wunderte es sie nicht im
geringsten, jetzt Lieutenant Markham auf der Schwelle zu ihrem
Quartier zu sehen. Ein wenig überrascht aber war sie, Andrea Walsh
ebenfalls dort zu finden. Die Technikerin sah sie etwas verschämt an
- und beide hatten sie Bierflaschen in der Hand.
„Ich denke, George, du solltest dir
Fisher mal vornehmen. Soviel Bier, wie er offensichtlich irgendwo
gebunkert hat ...“
Vashtu trat zur Seite und fragte sich,
ob und wer sie jetzt wohl noch aufsuchen würde. Einer jedenfalls
fehlte fehlte ihr: Danea. Doch der saß in der Prometheus mit Barnes
und Grodin und wartete darauf, daß sie ihn dort herausholte.
Vashtu schluckte den Kloß, der ihr in
die Kehle steigen wollte, wieder hinunter, linste mit langem Hals den
Gang hoch und runter und schloß dann die Tür.
TBC...
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