26.02.2012

Kalter Entzug IV


10 Tage vor der Rückkehr:

Vashtu blickte von dem Tablett auf, auf dem ihr Frühstück von Bates gebracht worden war. Allemal besser als das, was sie das letzte Mal in Vineta gegessen hatte, doch heute schien dem Haferbrei noch irgendetwas ... er hatte einen eigenartigen Geschmack.
Bates öffnete die Tür, nickte dem Eintretenden dann zu.
Vashtu ließ den Löffel sinken.
Pendergast? Er besuchte sie in ihrem Quartier? Was sollte ... ?
Plötzlich ging ihr selbst auf, daß es sie nicht wirklich störte, ob der Colonel zu ihr kam oder es bleiben ließ. Irgendwie schien ihr plötzlich alles auf rätselhafte Weise gleichgültig zu sein, mußte sie zugeben. Sie wollte ihr Leben leben, mehr nicht. Alles andere, diese ganze Geheimniskrämerei um Vineta und das Tor ...
HALT!
Vashtu richtete sich auf, nachdem sie einen langen Blick von Pendergast geerntet hatte und salutierte. „Sir", begrüßte sie ihn.
Was war denn plötzlich mit ihr los? Wie konnte sie die geringe, aber immerhin vorhandene Chance, mittels eines Wurmlochs zumindest bis nach Atlantis zu kommen, plötzlich so kalt lassen? Wieso hatte sie einen Moment lang sogar gedacht, es sei besser, wenn diese Geheimhaltung Pendergast gegenüber aufgehoben würde?
Guten Morgen, Major", sagte der Colonel, nahm ihr, zum ersten Mal, glaubte sie sich erinnern zu können, den Gruß ab. Erleichtert ließ sie sich wieder auf die Pritsche sinken, die ihr Bett darstellte, rührte weiter in dem Haferbrei.
Nicht gerade ein Drei-Sterne-Menü, nicht wahr?" Pendergast ließ sich vertraulich neben ihr nieder, nachdem er einen Blick mit Bates gewechselt hatte.
Vashtu schluckte, stellte die kleine Schüssel zurück auf das Tablett. Es war ihr unangenehm, einmal, den Colonel so dicht neben sich zu wissen und dann auch, daß er gekommen war, um ihr offensichtlich beim Essen zuzusehen.
Sie sind sicher anderes gewohnt, Major", fuhr er fort. „Wahrscheinlich wurden Sie auf Ihrer Erde hofiert und verhätschelt, nicht wahr?"
Vashtu blickte auf. „Was?" Sie blinzelte verständnislos, dann schüttelte sie den Kopf. „Ich weiß nicht, was hofieren bedeutet, Sir. Aber ... Nein, ich wurde nicht verhätschelt." Ihre Stimme klang in ihren eigenen Ohren seltsam schleppend.
Was war los mit ihr?
Mit einer Hand fuhr sie sich durch ihr Haar, und plötzlich hatte sie Mühe, die Augen aufzuhalten. Dabei hatte sie doch ganz annehmbar geschlafen, bedachte man ihren ewigen Schatten Bates, der stumm und diensteifrig Wache hielt. Brauchte dieser Mann eigentlich nie Schlaf?
Und was war das für ein Deal, über den Sie gesprochen haben? War das kein Hofieren?" bohrte Pendergast weiter.
Vashtu hob die Brauen, als könne sie so ihre Augen offenhalten und blinzelte einige Male. „Ich ... hatte einen ... Steuerkristall", antwortete sie.
Was erzählte sie da? Warum gab sie dieses so lange gehütete Geheimnis ausgerechnet Pendergast preis? Wie kam sie dazu?
Doch plötzlich war es ihr, als sei sie selbst nur eine Zuschauerin in ihrem eigenen Körper. Sie hatte keinen echten Einfluß mehr auf das, was mit ihr geschah. Innerlich stöhnte sie auf, als ihr Mund fortfuhr:
Den Steuerkristall von Atlantis, meiner Heimat. Um an ... sämtliche verschlüsselten Daten des ... des Hauptrechners zu gelangen, brauchte man ihn. McKay ... John und ich ... ich nahm den Kristall mit zur Erde, als ich ging."
Ihre Lider waren bleischwer, der Kopf sank ihr auf die Brust. Im nächsten Moment riß sie ihn wieder hoch und fühlte sich etwas klarer im Geist.
Was hatte sie da gerade getan? Wieso?
Bates war herangetreten und hatte das Tablett an sich genommen. Wann? Sie wußte es nicht. Jetzt jedenfalls stand er bei der Tür und sah Pendergast fragend an. Der nickte und erhob sich wieder von der Pritsche.
Was war los gewesen? Irgendetwas war passiert, das wußte sie, aber was?
Gut, Major", wandte Pendergast sich an sie, ein sehr zufriedenes Lächeln im Gesicht, als sie aufsah. „Ich möchte Sie nachher auf dem Schießstand sehen. Sergeant Bates wird Sie dort hinbringen, auch zu Ihrem eigenen Schutz. Ich denke, wir sollten uns bald wieder unterhalten. Was halten Sie davon, mit mir zu Mittag zu essen?"
Vashtu schluckte. Ihr Hals war plötzlich merkwürdig trocken, dabei hatte sie doch gerade noch diese bittere Brühe getrunken, Kaffee, erinnerte sie sich.
Ich ..."
Wir sollten uns etwas besser kennenlernen, denken Sie nicht, Major?"
Sie blinzelte wieder, dieses Mal aber irritiert. Dann nickte sie. Es klang einleuchtend, was er sagte. Sehr einleuchtend. Immerhin würde sie wohl eine ganze Weile auf der Prometheus bleiben.


Jetzt:

Anne war dem Ruf von Marc Boyer sofort gefolgt, als dieser sich meldete. Er hätte gar nicht betonen brauchen, um wen und was es sich handelte. Die Erinnerung an die Antikerin, wie sie freiwillig in die kleine Zelle im untersten Stockwerk der militärischen Zentrale gegangen war, wie sich das Gitter hinter ihr schloß und Dorn drei Mann als Wachen aufstellte, war noch mehr als deutlich in ihrem Geist.
Nie hätte sie geglaubt, daß irgendjemand soweit gehen würde. Zudem noch bei einem fremden, wenn auch äußerlich ähnlichem Volk wie den Antikern. Niemand konnte sagen, was diese Drogen, die Major Uruhk offenbar irgendwie zugeführt worden waren, in ihrem Körper und ihrem Geist anrichten konnten. Sie selbst hatte ja gestern dieses Zittern gesehen, hatte den ersten Gewaltausbruch  beinahe am eigenen Leibe zu spüren bekommen.
Als sie jetzt die Krankenstation betrat, wußte sie nicht, was sie hoffen und glauben sollte. Sie konnte wirklich nur hoffen, daß die Antikerin sich wieder von diesen Drogen erholen würde. Ansonsten ... Sie könnte hierbleiben, soviel war klar. Aber ob sie je wieder die Alte werden würde?
Dr. Stross", Boyer winkte sie gleich zu sich in das Abteil, in dem seine Leute ein kleines Labor eingerichtet hatten.
Wie sieht es aus?" Anne folgte ihm auf dem Fuße. Ihr Herz schlug ihr bis zum Hals.
Wenn sie nur endlich die Prometheus los wären! Wenn Pendergast sich doch nur irgendwie selbst ausmanövrieren würde.
Die gute Nachricht lautet, der Asgard ist nicht betroffen", erklärte Boyer mit ruhiger Stimme und legte ihr einige Ausdrucke vor. „Soweit bekannt, ist mit ihm alles in Ordnung. Leider bin ich nicht dafür ausgebildet, den tatsächlichen Gesundheitszustand eines Asgard genau zu verifizieren. Aber soweit bekannt, hat er sich schon immer so wie jetzt verhalten."
Und Major Uruhk?" Anne blickte von den Ausdrucken auf und starrte den Pfleger an.
Boyer holte tief Atem. „Das ist etwas anderes", gestand er ihr dann zu wissen.
Annes Herz setzte einen Schlag aus. Nicht jetzt! Nicht ausgerechnet jetzt! Sie brauchten Vashtu Uruhk, auch um die anderen noch aus der Prometheus herauszuholen. Sie war die einzige hier, die über genug Flug- und Kampferfahrung verfügte, einmal abgesehen von Dorn, der aber keine allzu große Hilfe sein würde bei dem, was da möglicherweise auf sie zukam.
Boyer seufzte. „Das Glück ist, daß ihr Metabolismus wohl schneller arbeitet als der eines Menschen, möglicherweise wegen ihrer Fremdzellen", begann er dann. „Sonst wären die Entzugserscheinungen wahrscheinlich auch nicht so früh zu Tage getreten. Und sehr wahrscheinlich wird Major Uruhk sich auch vollkommen davon erholen, was man ihr da gegeben hat." Er blätterte in einigen anderen Ausdrucken.
Aber?" Anne hing an seinen Lippen und wartete gespannt, die Hände zu Fäusten geballt.
Was man ihr da gegeben hat, ist eine üble Mischung", fuhr Boyer schließlich fort. „Keine Ahnung, woher man es hatte. Ich kann mir auch nicht vorstellen, daß Dr. Grodin das freiwillig herausgerückt hat. Eher, daß ... Laut der Aussage von Major Uruhk hätte sie ihre Nahrung nur von Sergeant Bates erhalten, und der stand unter direktem Befehl von Colonel Pendergast."
Was hat man ihr gegeben?" Annes Augen wurden immer größer.
Boyer blickte auf. „Eine Mischung", antwortete er. „In ihrem Blut war noch genug vorhanden, um es  zu analysieren. Man hat ihr hohe Dosen eines Mittels gegeben, das unter dem Namen Skopolamin bekannt ist, oder auch Burudanga, falls Ihnen das mehr sagt. Dazu kommt noch Valium. Wahrscheinlich, um sie ohnehin schon träge zu machen. Skopolamin gilt als Wahrheitsdroge, Dr. Stross. Und in den Mengen, wie es im Blut des Majors nachweisbar war ... Das hätte sehr schlimm enden können für sie."
Annes Augen weiteten sich. „Was? Sie meinen ... ?"
Boyer reichte ihr die Unterlagen. „Ich meine nicht. Ich war heute morgen bei Major Uruhk, ich weiß es. Sie hat es mir erzählt, ehe sie wieder anfing, die Wände mit ihren Fäusten zu bearbeiten."
Anne atmete tief ein, überflog die Zeilen, die ihr, ehrlich gesagt, wenig bis gar nichts sagten. „Kann sie sich an irgendetwas erinnern?"
Nicht wirklich. Es sei alles verschwommen, sagt sie. Und damit weiß sie schon wesentlich mehr als die meisten, denen Skopolamin verabreicht wurde. Dieses Zeug bricht nach und nach den Willen, Dr. Stross. Es ist gefährlich. Und ich bin mir ganz sicher, in der Bordapotheke nichts davon gesehen zu haben."
Anne starrte den Pfleger an. „Es bricht den Willen?"
Boyer nickte. „Und nicht nur das. Es gilt nicht umsonst als Wahrheitsdroge. Ich denke, wir müssen uns vielleicht mit dem Gedanken vertraut machen, daß es Major Uruhk selbst war, die unser kleines Machtspielchen auf der Prometheus aufgedeckt hat", erklärte er.
Dazu wußte sie zu wenig", entgegnete Anne sofort. „Und es ging nie um Machtspielchen, Mr. Boyer, und das wissen Sie auch. Ihre Verlobte war auf der Daedalus, und ein Gutteil Ihrer besten Freunde."
Dann eben Rache. Aber möglicherweise hatte Major Uruhk mehr erraten, als Sie denken, Dr. Stross", wandte Boyer ein. „Wir wissen es nicht, wir können es nicht sagen. Aber es ist schon bezeichnend, daß, kaum daß ihr die Flucht gelungen ist, Pendergast auf seinem Schiff aufräumt. Vielleicht hat er uns auch ein Kuckucksei ins Nest gelegt, Dr. Stross. Darüber sollten Sie nachdenken."
Das glaube ich nicht. Ich kenne Major Uruhk gut genug, um das sagen zu können." Anne kreuzte abwehrend die Arme vor der Brust und funkelte den Pfleger an.
Aber, kannte sie die Antikerin wirklich gut genug? Konnte sie mit absoluter Sicherheit sagen, daß sie ihnen nicht nur Theater vorgespielt hatte gestern? War ihre Wut auf Pendergast tatsächlich echt gewesen oder hatte sie nur von ihrer eigenen Schuld ablenken wollen?
Nein, das konnte nicht sein. Anne hatte die Antikerin bisher nur einmal ähnlich zornig erlebt, und da hatte sie einem Devi gegenübergestanden und ihn kaltblütig erschossen. Sie konnte sich nicht vorstellen ... Nein, dafür war auch Dorns Reaktion zu ehrlich gewesen. Der Willen der Antikerin hielt. Und hatte sie nicht selbst vor einiger Zeit etwas von einem anderen Versuch erzählt, der vor zehntausend Jahren unternommen wurde, um sie zu einem Werkzeug zu machen?
Was können wir tun?" fragte Anne leise und mitfühlend.
Boyer sah sie einen Moment lang sinnend an, dann reichte er ihr auch den zweiten Stapel Papiere. „Gar nichts. Wenn ich, einmal abgesehen davon, daß ich hier kein Skopolamin habe, im Moment eine ausreichende Menge Valium spritzen würde, würde das die Abhängigkeit nur noch mehr steigern. Das einzige, was bleibt, ist ein kalter Entzug, wie sie ihn sich gerade unterzieht. In ein paar Tagen ist die Sache hoffentlich ausgestanden."
Anne blickte auf die beiden Stapel Papier, die sie in ihrer Hand hielt.
So sicher war sie sich da nicht. Nicht bei der Antikerin.



19.02.2012

Kalter Entzug III


14 Tage vor der Rückkehr:
Vashtu lief, je nach Ansage durch Bates, mal schneller, mal langsamer und umrundete dabei immer wieder den leergeräumten Hangar, in dem vor noch nicht allzu langer Zeit die Sachen der Vineter eingelagert worden waren. Jetzt war der riesige Raum leer bis auf sie und Bates und ließ ihre Schritte auf dem metallenen Untergrund hallen.
Das Schott öffnete sich, als sie gerade am gegenüberliegenden Ende des Hangars angekommen war. Sie warf einen kurzen Blick hinüber und sah einen einsamen Pendergast, wieder hatte er seine Leibwächter zurückgelassen, der gerade eintrat und mit großen Schritten zu dem Marine-Sergeant hinüberging.
Noch einer, der sie herumscheuchen wollte, na toll!
Vashtu biß sich auf die Lippen und joggte weiter, immer noch in dem Tempo, das Bates ihr vorgegeben hatte. Was auch immer der Colonel von ihr wollte, sie würde es früher erfahren, als ihr lieb sein konnte, das war ihr klar.
Und lange zu warten brauchte sie tatsächlich nicht.
Major? Würden Sie bitte zu uns kommen?" rief Bates ihr zu, nachdem er vertraulich den Kopf mit Pendergast zusammengesteckt hatte.
Was heckten die beiden aus? Und warum auf diese, für sie, so offensichtliche Art und Weise?
Natürlich hatte sie sich bereits daran gewöhnt, wenn sie auf der Prometheus war, abgesondert zu werden. Pendergast hatte das vom ersten Moment an mit ihr versucht. Erst war sie von dem Rest ihres Teams ferngehalten worden, dann auch von den Wissenschaftlern. Irgendwann durfte sie offiziell auch die ehemalige Atlantis-Expedition nicht mehr aufsuchen. Und dann, als letzten Schritt, hatte Pendergast sie auch wieder aus der 302-Staffel entfernt, in die er sie zunächst untergebracht hatte. Bedachte man dann noch ihre ganzen Brick-Aufenthalte, die immerhin inzwischen mehr als die Hälfte ihrer Zeit auf dem Schiff einnahmen, war sie wirklich gründlich isoliert worden. Und jetzt, nach ihrer Rückkehr vom Planeten, mußte sie sich auch noch mit einem ständig anwesenden Bates begnügen, der wie ein Wachhund vor der Tür ihres Quartiers lauerte und sie durch die Gänge schleuste als dürfe wirklich niemand wissen, daß sie wieder hier war. Und, wenn sie ehrlich war, fühlte sie sich im Moment mehr wie eine Gefangene als bei ihren zahlreichen Aufenthalten in der kleinen Zelle der Prometheus.
Vashtu wich von ihrem Weg ab und joggte locker zu den beiden Männern, die sie aufmerksam musterten. Dann blieb sie stehen, richtete sich auf und salutierte.
Stehen Sie bequem, Major." Pendergast winkte mit einer ungewohnten Lockerheit ab und musterte sie aufmerksam.
Vashtu stellte sich in der vorgeschriebenen Position auf, warf Bates einen giftigen Blick zu, der weiter wie bisher dastand, sie ebenfalls von Kopf bis Fuß musterte.
Der Sergeant sagte, Sie seien mindestens zwanzig Runden gelaufen", bemerkte Pendergast, während er nun begann, sie zu umrunden. Seine kalten Augen musterten sie dabei weiter aufmerksam. Sie spürte jeden einzelnen seiner Blicke.
Das kann sein", räumte sie ein, auch wenn sie die genaue Anzahl ihrer Laufrunden mehr als gut im Kopf hatte. Jede einzelne hatte sie verflucht.
Dafür haben Sie eine erstaunliche Ausdauer, Major. Sie sind nicht einmal außer Atem, geschweige denn verschwitzt", stellte der Colonel fest.
Verdammt!
Vashtu biß sich unwillkürlich auf die Lippen, entgegnete aber nichts.
Ihr war nicht einmal bewußt gewesen, daß sie die Fremdzellen eingesetzt hatte während des Laufens. Sie sollte wirklich besser auf sich achten, vor allem, solange sie unter der Fuchtel dieses Idioten stand.
Pendergast nahm vor ihr wieder Aufstellung und sah ihr tief in die Augen, wie so oft. „Was müssen wir tun, damit Sie ein bißchen ins Keuchen kommen, Major?" erkundigte er sich scheinbar liebenswürdig.
Vashtu zwang sich zu einem zerknirschten Lächeln. „Die ganze Rennerei der letzten Zeit, Sir", entgegnete sie und zuckte entschuldigend mit den Schultern.
Pendergast nickte, ohne ein Auge von ihr zu lassen. „Die ganze Rennerei also, soso", sagte er, drehte sich dann unvermittelt zu Bates um. „Das ganze noch einmal von vorn. Ich möchte unseren kleinen Major ein bißchen schwitzen sehen", befahl er, warf ihr noch einen halben Blick zu. „Und zwar mit vollem Marschgepäck. Das wird Sie hoffentlich ein bißchen aus der Puste bringen, denken Sie nicht?" Ein kühles Lächeln erschien auf seinen Lippen.
Ja, Sir. Da bin ich sicher, Sir", antwortete sie.
Volles Marschgepäck? War dieser Kerl irre?
Pendergast sah sie immer noch an. „Worauf warten Sie, Major?" Unwillkürlich hatte seine Stimme alle gespielte Freundlichkeit verloren. „Gepäck anlegen, marsch, marsch! Sonst könnte mir noch einfallen, Ihnen persönlich auch noch eine Panzerfaust um Ihren Hals zu legen!"
Vashtu zuckte zusammen, nickte dann und folgte Bates, der sie zu einem kleinen Kabuff führte, in dem offensichtlich schon alles bereit lag.
Das schien ja wirklich ein netter Tag zu werden!

***

Jetzt:
Das Zittern begann, kurz bevor die Tür sich öffnete. Vashtu war froh, daß sie es zumindest geschafft hatte, die Prothese fertigzustellen, ehe es richtig losging. Dabei war es eigentlich eher unangenehm als wirklich schmerzhaft. Dennoch fühlte sie, wie ihr kurze Zeit später der kalte Schweiß ausbrach.
Major?" begrüßte Dorns Stimme sie.
Vashtu kreuzte wie zur Abwehr die Arme vor der Brust, damit er das Zittern nicht bemerkte, dann drehte sie sich um und setzte ein Lächeln auf. „Gerade rechtzeitig, Marine", sagte sie. Dann aber blieb ihr der Rest des Satzes im Hals stecken, als sie ein zweiter Mann hinter dem Rollstuhl das Büro betrat.
Marc Boyer, Oberpfleger hier", stellte Dorn den Fremden vor.
Vashtu nickte, verkrampfte sich unwillkürlich und ballte die, unter ihren Achseln ruhenden Hände zu Fäusten, als das Zittern kurz zuzunehmen schien. Sie zwang sich, das Lächeln beizubehalten und nickte Boyer zu. „Hallo", begrüßte sie ihn, ignorierte seine hingestreckte Hand und trat zur Seite. „Gerade fertig geworden. Meine Hände sind schmutzig."
Boyer warf ihr einen irritierten Blick zu, richtete dann aber seine Aufmerksamkeit auf das Metallgestänge, das sie zusammengebastelt hatte. „Das ist wirklich gut, Major", sagte er, hob es vorsichtig an.
Vashtu nickte, rückte noch ein Stück zur Seite.
Sie brauchte Nahrung, dann würde auch das Zittern nachlassen. Sie wußte zwar nicht, woran es lag, aber zumindest soviel hatte sie inzwischen herausgefunden auf der Prometheus. Da war es ihr in den letzten Tagen auch so gegangen, einmal sogar ... Sie zwang sich, den Gedanken beiseite zu schieben und lächelte Dorn an. „Ich habe mich an Peters Messungen gehalten", sagte sie. „Falls er aber bereits übermüdet war, als er ... Ich habe das ganze noch nicht endgültig verschweißt. Wenn also noch scharfe Kanten vorstehen ..."
Wir werden das schon richten können, Major." Boyer kniete sich vor Dorn hin und hielt ihm die Prothese an den Beinstumpf.
Vashtu atmete unwillkürlich auf, als das Interesse von ihr abwich. Vorsichtig löste sie die Verschränkung ihrer Arme wieder, legte sie schwer auf den kleinen Tisch und beugte sich mit soviel Gewicht wie möglich darauf, um das Zittern zu unterdrücken.
Die Maße stimmen", gestand der Pfleger ihr zu wissen.
Vashtu nickte, betrachtete ihn.
Doch, sie meinte, ihn zumindest schon einmal gesehen zu haben. Vielleicht war er in ihrem Puddlejumper heruntergekommen, sie wußte es nicht mehr. Aber gesehen hatte sie ihn auf alle Fälle.
Sein kurzes Haar war dunkelblond und ließ den Nacken frei in der Art von Frisur, wie sie bei Männern auf der Erde im Moment Mode zu sein schien. Seine Gestalt war athletisch, er schien zumindest regelmäßig Sport zu treiben, oder hatte ihn getrieben, ehe sie hierher kamen.
Vashtu erinnerte sich ein wenig wehmütig an die Sporthalle auf Atlantis, in der sie bei ihrem ersten Mal Abschied von John genommen hatte. An das Licht erinnerte sie sich vor allen Dingen. Die bunten Fenster hatten die Morgensonne eingefangen und den Raum in einen Traum getaucht, wie er ...
Boyer richtete sich wieder auf und drehte sich zu ihr um.
Vashtu, einen Moment lang unaufmerksam, hatte sich wieder aufgerichtet. Ihre Hände zitterten immer noch, jetzt sehr deutlich für alle zu sehen. Und der Blick aus den grünen Augen des Oberpflegers richtete sich sofort darauf.
Vashtu erstarrte, als sie auch die sorgenvolle Miene von Dorn sah, der ebenfalls bemerkt hatte, wie sehr ihre Gliedmaßen bebten.
Major?" Boyer hob den Blick und sah sie scharf an.
Vashtu zwang wieder ein Lächeln auf ihre Lippen, schluckte aber hart. „Alles in Ordnung", beeilte sie sich zu versichern.
Boyers Blick wurde mißtrauisch.
Vashtu hob die bebenden Hände und ließ ihr Lächeln zu einem Grinsen werden. „Wenn ich was gegessen habe, hört es wieder auf", sagte sie erklärend.
Wenn Sie etwas gegessen haben ... mh." Noch immer dieser scharfe, mißtrauische Blick.
Ja, und genau das sollte ich jetzt wohl auch tun. Außerdem ist Heimdahl schon ein bißchen lange allein. Und ..." Sie brach ab, als sie in Dorns Gesicht sah.
Was war hier los? Warum beschlich sie plötzlich das Gefühl, die beiden wußten mehr über das, was da mit ihr geschah als sie selbst?
Seit wann geht das so?" fragte Boyer.
Ihr fiel endlich ein, die Arme wieder zu kreuzen und damit ihre zitternden Hände zu verbergen. „Was?"
Das Zittern. Sie sagten, wenn Sie etwas essen, würde es aufhören. Hat Dr. Grodin Sie untersucht?" bohrte Boyer weiter.
Ich habe Grodin nicht gesehen. Nein, er hat mich nicht untersucht. Zumindest nicht bei meinem letzten Besuch auf der Prometheus."
Mädchen, bist du sicher, daß ..."
Boyer warf dem Marine einen scharfen Blick zu, trat dann näher an sie heran. „Wie geht es Ihnen sonst? Schweißausbrüche? Konzentrationsstörungen? Fühlen Sie sich matt?" fragte er.
Vashtu wich unwillkürlich vor ihm zurück. „Was soll das?" Ihre Brauen schoben sich zusammen. „Ich bin nicht wie Sie, Pfleger Boyer! Mein Körper kann schon einmal merkwürdig reagieren."
Sie sind auf turkey, Major", entgegnete der mit fester Stimme, gerade als sich die Tür zum zweiten Mal öffnete.
Vashtu erstarrte. „Ich bin was?" Am Rande nahm sie wahr, daß Anne Stross das Büro betreten hatte, sie nun ebenfalls anstarrte und wäre am liebsten im Boden versunken.
Was bildete dieser Kerl sich ein? Wie konnte er von ihr behaupten, sie sei ... sie sei ... ? Was war das eigentlich?
Was ist hier los?" fragte Stross endlich.
Boyer ließ sie nicht aus den Augen, und Vashtu wagte kaum, den Blick von ihm zu nehmen. Doch schließlich bezwang sie sich und nickte in seine Richtung. „Er behauptet, ich sei ... ich weiß nicht was", antwortete sie.
Sie stehen unter Drogen, das behaupte ich", warf Boyer hart ein. „Und offensichtlich wissen Sie nichts davon, was das ganze noch merkwürdiger macht."
Vashtu klappte das Kinn herunter, während wieder ein kalter Schweißfilm auf ihrer Stirn erschien.
Sie war was? Aber ...
Oh mein Gott!" keuchte Stross und starrte sie nun erst recht an. „Darum sind Sie so merkwürdig ruhig."
Was?" Hilflos blinzelnd drehte Vashtu leicht den Kopf und sah die Leiterin groß an. „Wie kommen Sie denn auf den Gedanken? Ich bin ..." Unvermittelt schloß sie den Mund, als sie begriff. „Oh nein!" Sie sank gegen die Wand und schluckte.
Boyer hob die Hand und legte sie ihr auf die Stirn. „Das sind die ersten Anzeichen eines Entzugs. Das Zittern, der kalte Schweiß. Und ich möchte wetten, in den letzten Minuten haben Sie sich auch nicht mehr sonderlich konzentrieren können." Plötzlich klang er doch besorgt.
Vashtu ächzte, wehrte sich aber nicht, als er sie am Arm packte und zu einem Stuhl brachte. Unter den besorgten Augen von Stross und Dorn begann er sie zu untersuchen.
Pendergast!" Vashtu richtete sich plötzlich wieder auf, fühlte sich zurückgedrückt.
Major, bleiben Sie ruhig", warnte Stross sie.
Aber allmählich begann sich etwas zu klären. Darum war sie plötzlich so gleichgültig gegenüber allem geworden, was der Colonel mit ihr angestellt hatte. Darum diese merkwürdige Apathie, die auch Barnes mit der Möglichkeit zur Flucht nicht wirklich hatte brechen können.
Hier hatte sie sich bis jetzt zusammengerissen, sehr zusammengerissen. Sie hatte versucht, das Bild der Major Uruhk wieder aufzunehmen, das sie bereits vorher gezeigt hatte, auch wenn sie sich seltsam ... antriebslos gefühlt hatte. Zumindest hatte sie nicht mehr über die Energie verfügt, die sie sonst immer vorangetrieben hatte. Und das ganze hatte begonnen ...
Ganz klar, Entzugserscheinungen." Boyer richtete sich endlich wieder auf.
Vashtu blieb auf dem Stuhl sitzen und starrte dumpf vor sich hin, während in ihr eine gewisse Wut zu schwelen begann.
Wenn Pendergast ihr noch einmal in die Finger kam, würde sie ...
Das wird noch schlimmer werden", fuhr Boyer fort, riß sie damit aus ihren Rachegedanken und ließ sie aufblicken. Die grünen Augen sahen sie jetzt sorgenvoll an. „Sie wußten wirklich nichts davon, oder?"
Stumm schüttelte sie den Kopf und schluckte wieder.
Was können wir tun?" fragte Stross, die immer noch neben Dorn stand.
Ich würde Ihnen gern etwas Blut abnehmen. Vielleicht finden wir noch Reste von dem, was auch immer man Ihnen da gegeben hat, Major", schlug Boyer vor. „Unter normalen Umständen wäre ich dafür, Sie in die Krankenstation zu bringen und dort überwachen zu lassen. Aber im Moment ..." Er zuckte etwas hilflos mit den Schultern.
Ich komme hier nicht heraus." Ihre Stimme klang in ihren eigenen Ohren dumpf. Hilflos grübelte sie über das Problem nach. „Ich kann nicht in die obere Etage zurück. Dorn, gibt es hier irgendwo eine Zelle. Eine Zelle, die mich aushält?"
Wieder eine Zelle! Allmählich wurde das wirklich zu ihrem zweiten Wohnsitz. Aber dafür würde sie Pendergast zahlen lassen.
Vielleicht wird es nicht ganz so schlimm, Major", wandte Boyer ein. „Können Sie sich daran erinnern, wann Ihre Stimmung umschlug?"
Vashtu runzelte die Stirn, war einen Moment lang versucht, den Kopf zu schütteln, dann aber fiel es ihr wieder ein. „Das war ... nach vier Tagen oben", antwortete sie zögernd.
Wie hatte das passieren können? Wie hatte sie ... ?
Es muß in Ihrer Nahrung gewesen sein, wenn Sie die Verabreichung nicht bemerkten. Haben Sie nicht in der Messe gegessen?"
Stross trat jetzt einen Schritt näher.
Sergeant Bates brachte mir das Essen. Ich durfte mein Quartier nicht verlassen." Vashtus Augen weiteten sich. „Heimdahl! Auch er stand unter Bewachung. Wenn Pendergast das gleiche mit ihm ..."
Dann werden wir das herausfinden, Major", beruhigte Stross sie, legte ihr vorsichtig eine Hand auf die Schulter.
Zehn Tage bei Ihnen. Das kann bedeuten, daß es nicht allzu schlimm wird. Aber ein oder zwei Tage werden Sie wohl ausfallen", erklärte Boyer, drehte sich zu Dorn um. „Stellen Sie eine Bewachung für den Major zusammen, nur für alle Fälle. Und möglicherweise wäre eine Zelle, so schwer es auch fällt, im Moment wirklich eine günstige Alternative."
Der Marine nickte mit blassem Gesicht.
Vashtu schluckte wieder, zerwühlte mit einer Hand ihr verstrubbeltes Haar. „Wenn ich diesen aufgeblasenen Mistkerl in die Finger kriege!" zischte sie, ballte die Hand zur Faust. Am Rande registrierte sie, daß das Zittern etwas nachgelassen hatte.
Bleiben Sie ruhig. Wir finden einen Ausweg", wandte Stross sich an sie.
Damit wären dann aber auch wirklich alle versammelt, die auf keinen Fall hätten etwas erfahren sollen, oder? Vashtu hätte ihren Schädel gegen die Wand rammen können, immer und immer wieder.
Sie war hierher zurückgekommen in der Hoffnung, aufgenommen zu werden und dort weitermachen zu können, wo sie das letzte Mal hatte aufhören müssen. Statt dessen saß sie jetzt in diesem Gebäude fest und mußte mit einem Drogenproblem fertig werden, von sie nicht einmal die blaßeste Ahnung gehabt hatte.
Hat er sich schon gemeldet?" Mit einem Ruck hob sie den Kopf wieder und starrte Stross an.
Wer?"
Pendergast!" Sie spie diesen Namen aus wie einen Fluch, und genau das war er im Moment auch für sie. Ihr persönlicher Fluch. Vineta hatte sich als Hoffnung herausgestellt, Pendergast dagegen, der einzige Militär hier, der vielleicht eine Möglichkeit zur Hilfe bieten konnte, verwandelte sich mehr und mehr in ... in einen Alptraum, den sie liebendgern beendet hätte.
Stross atmete tief ein, nickte dann stumm. „Er fragte nach, ob hier zufällig ein Jumper gelandet wäre. Ein Jumper mit zwei Flüchtigen", antwortete sie ausweichend.
Vashtu neigte fragend den Kopf. „Was noch?" bohrte sie weiter.
Major, das ..."
Was noch? Was wollte diese Ratte noch?" Der Ausbruch kam selbst für sie so überraschend schnell, daß sie ihn nicht verbergen konnte.
Die Fremdzellen übernahmen, ohne daß sie etwas dagegen tun konnte. Sie spürte nur, wie ihre Augen sich plötzlich veränderten. Die Wut, die sie mühsam zu verbergen suchte, brach sich ihre Bahn, ließ sie die Hände zu Fäusten ballen, bis die Finger weiß wurden und die Gelenke knackten. Ihr gesamter Körper begann vor Wut zu vibrieren. Und sie wünschte sich nichts mehr, als die Bestie, die in diesem Moment in ihr erwachte, auch loslassen zu können.
Stross wich unwillkürlich etwas zurück, ließ ihre Hand aber weiter auf ihrer Schulter liegen. „Wie es aussieht, ist er hinter die Intrige gekommen, die ... Er sagte, daß wohl einige seiner leitenden Offiziere in Arrest sitzen."
Vashtu preßte die Kiefer fest aufeinander, um den wütenden Schrei zu unterdrücken, der an ihrer Kehle zerrte.

TBC ...

13.02.2012

Kalter Entzug II


Jetzt:
Ach, hier stecken Sie!"
Dr. Peter Babbis schreckte aus seinem Schlaf hoch, blinzelte irritiert und schob sich dann die komplett verrutschte Brille wieder richtig auf die Nase. Als sein Blick auf den Bildschirm des Laptops fiel, stöhnte er auf. „Oh nein!"
Alles einsacken!" befahl eine Stimme hinter ihm.
Hinter ihm? Eine Stimme? Eine bekannte Stimme!
Peter fuhr herum und starrte Sergeant George Dorn mit großen Augen an, der mit einigen Erethianern das abgeschirmte Lagerhaus, das er zu seinem Labor gemacht hatte, betreten hatte. Die menschlichen Aliens machten sich gleich an die Arbeit und begannen, die drei auseinandergenommenen Planetenkiller in die Kisten zu packen, in denen er sie hergebracht hatte. Auch die rudimentär vorhandene Prothese für Dorns verlorenes Bein wanderte ohne weitere Umstände in eine Kiste.
Was ... ?" Peter blickte sich irritiert um, kratzte sich am Kopf und gähnte.
Noch immer war er hundemüde, kein Wunder, nachdem er vier Tage lang mehr oder weniger komplett auf Schlaf verzichtet hatte. Aber was hier gerade vor sich ging ... ?
Was ist hier los?" wandte er sich an seinen ehemaligen Teamkollegen.
Dorn schmunzelte. „Befehl vom Major", antwortete er in seiner gewohnt einsilbigen Art, schob seinen Rollstuhl näher an den Tisch heran und streckte seine Hand nach dem Laptop aus. „Daten?"
Peter starrte den Marine verwirrt an. „Befehl von wem?" fragte er irritiert. „Hier ist doch ... Aber ..."
Die Daten? Hier drin?" wiederholte Dorn noch immer breit grinsend.
Peter blinzelte, begann an seinem Ohrläppchen zu zupfen. „Was? Äh, ja", antwortete er, erhob sich dann entrüstet, als der Marine den Laptop an sich zog und zusammenklappte. „Was soll das, Dorn? Für wen halten Sie sich denn eigentlich? Sie können mir doch nicht so einfach meine Forschungsarbeit wegnehmen? Wo sind wir hier denn? In einem Polizeistaat?"
Dorn grinste noch breiter. „Befehl vom Major. Sie sollen sich ausruhen, wir schaffen die Sachen in den Turm." Er nickte hinter sich.
Was?" Peter starrte die Wand an, dann stemmte er die Hände in die Hüften, als er beobachtete, wie die Erethianer die Kiste mit den Planetenkillern zur Tür schafften. „Wir haben keinen Major in Vineta, Dorn! Wie kommen Sie dazu, so einen Unsinn zu behaupten?" herrschte er den alternden Militär an.
Aus Dorns Kehle kamen kleine, glucksende Laute. „Sie legen sich hin. Der Major wird sich ansehen, wie weit Sie sind und mithelfen", erklärte er, nachdem er sich wieder etwas beruhigt hatte.
Welcher Major, verdammt noch mal?" herrschte Peter ihn an, beugte sich über ihn und versuchte, ihn niederzustarren. „Wenn Dr. Stross diesen Unsinn befohlen hat, können Sie mir das auch gern sagen. Aber einen Major haben wir nicht hier unten, also hören Sie mit diesem Quatsch auf, Dorn!"
Wir hatten keinen Major hier, jetzt haben wir einen." Dorn lächelte ihn sehr zufrieden an.
Peter begriff, daß dies tatsächlich die Frage gewesen war, auf die der Marine die ganze Zeit abgezielt hatte. Nur konnte er wohl nicht schnell genug schalten.
Aber ...
Welcher Major? Auf der Prometheus gab es seines Wissens derer drei. Und bei Dethman und Barnes hatte er, ehrlich gesagt, nicht das Gefühl gehabt, als würden sie sich sonderlich für irgendwelche Forschungen interessieren. Blieb eigentlich nur noch ...
Peter riß die Augen auf und starrte Dorn groß an. „Soll das heißen, Vashtu ist wieder hier?" entfuhr es ihm endlich.
Der Marine grinste wieder breit, begann zu nicken. „Gestern abend angekommen", antwortete er, nicht ohne einen gewissen Stolz in der Stimme.
Peter fühlte sich plötzlich übergangen. Warum erfuhr er erst jetzt etwas davon, wenn die Antikerin doch gestern schon angekommen war? Wieso hatte ihm das denn keiner mitgeteilt? Es wäre doch ein leichtes gewesen, ihn zu kontaktieren und ... War es nicht! Darum hatte er ja dieses Lagerhaus als Labor gewählt. Er war hier für den Funk nicht erreichbar.
Peter lehnte sich gegen den Tisch und stöhnte auf, das Gesicht hinter seinen Händen verbergend. „Ich Esel!"
Ruhen Sie sich aus. Die Kleine hilft mit bei Ihren Sachen, verlassen Sie sich darauf." Dorn wendete den Rollstuhl und folgte den Erethianern hinaus. An der Tür hielt er noch einmal an und drehte sich um. „Heimdahl ist jetzt auch hier", gestand er Peter noch zu wissen, ehe er das Lagerhaus endgültig verließ.
Der junge Wissenschaftler ließ augenblicklich die Hände sinken und starrte dem Marine mit großen, ungläubigen Augen nach.

***

Vashtu hatte sich hinter dem großen Schreibtisch auf dem eigenartig geformten Stuhl niedergelassen und las einige Berichte, die Dorn ihr gegeben hatte. Stirnrunzelnd ging sie die einzelnen Daten durch.
Da würde sie alle wohl noch ein ganzes Stück Arbeit erwarten, wie sie das sah. Nicht nur, daß die Erethianer-Kinder sich offenbar immer öfter im gesperrten Forschungs-Sektor herumtrieben, auch was bei den Fremdwelteinsätzen so alles passiert und nicht auf Peters Mist gewachsen war, ließ sie das ganze mehr als skeptisch betrachten.
Wenn sie die bisherigen Schritte richtig interpretierte, hatte man versucht, so freundlich und offen wie möglich aufzutreten und auf diese Weise das Vertrauen der hier Lebenden zu gewinnen. Kein schlechter Ansatz, der bei den Erethianern ja auch bestens funktioniert hatte. Allerdings schienen die Welten, auf denen sich Sternentore befanden, regelmäßig von den Devi heimgesucht zu werden. Solche Erfahrungen wie bei der ersten Mission, die sie durchgeführt hatte, waren den anderen Teams erspart geblieben, womit auch feststehen dürfte, daß es sich bei den Sa'tiankern um eine böse Ausnahme gehandelt haben dürfte. Zumindest hoffte sie das.
Etwas anderes war dabei die Tatsache, daß die Devi sich offensichtlich wirklich ziemlich ... vermehrt hatten in der letzten Zeit, bevor sie hier gelandet waren. Kein guter Zeitpunkt, um sich hier irgendwo einzuführen, wie Vashtu fand. Die Devi betrachteten die Menschen als besseres Schlachtvieh, betrieben offensichtlich den Jagdsport - wußte sie nicht etwas ähnliches über die Wraith? - und rotteten ab und an ganze Planetenbevölkerungen ohne jeden offensichtlichen Grund aus. Hier unterschieden sie sich wirklich von den ihr bekannten Wraith, die zu diesem letzten Mittel nur griffen, wenn sich die Menschen gegen sie wandten. Den Devi dagegen schien es vollkommen gleichgültig, solange sie nur ihren Hunger stillen konnten.
Vor Vashtus innerem Auge tauchte wieder dieser gewaltige Kessel auf, den Frederics und sie in einem Gebäude der inzwischen zerstörten Stadt gefunden hatten. Unwillkürlich wurde ihr übel und sie vertrieb mit einem heftigen Kopfschütteln diese Erinnerung, die fast unmittelbar mit einer anderen, nicht weniger schmerzlichen gekoppelt war.
Sie lehnte sich auf dem Stuhl zurück und betrachtete sinnend den letzten Bericht, den sie gerade gelesen hatte.
Sie hatten ein Problem. Und dieses Problem betraf offensichtlich ihren Auftritt auf anderen Planeten. Sie sollte mit Stross darüber reden, auch wenn sie von vorn herein wußte, was die andere dazu sagen würde.
Vashtu seufzte. Wenn sie nicht beherzter und, leider auch, härter wurden, würden sie über kurz oder lang untergehen. Und daran hätte dann nicht die Prometheus schuld, sondern sie selbst. Sie mußten mit den gleichen Bandagen kämpfen, mit denen in dieser Galaxie wohl gefochten wurde. Denn zumindest auf den Planeten, die in das Stargate-Netzwerk eingebunden waren, herrschte offensichtlich ein reger Handel.
Vashtu nagte an ihrer Unterlippe und runzelte die Stirn.
Bisher hatte die oberste Devise gelautet, nichts von Vineta und den neuen Bewohnern zu erzählen. Dabei dürfte es wohl jedem Außenstehenden klar sein, daß auf diesem Planeten irgendetwas nicht so ganz mit rechten Dingen zuging. Wenn sie jetzt aber offen als die Erben ihres Volkes auftreten würden ... ? Wenn sie die verbotene Stadt in ihre Verhandlungen mit einbanden und darauf pochten, was sie getan hatten?
Vashtu dachte nach.
Natürlich wollten die meisten der anderen Bewohner dieser Galaxie nichts von den Lantianern wissen. Kein Wunder nach dem, was hier geschehen war, wenn man sie fragte. Andererseits aber schien ihnen etwas gelungen zu sein, was sonst noch kein, jetzt existierendes Volk zu stande gebracht hatte: sie hatten das Devi-Volk dieses Planeten komplett ausgelöscht. Es gab keinen mehr, der ihnen im Moment gefährlich werden konnte. Als Beweis könnten sie tatsächlich die Ruinen anführen.
Sie hatten, zumindest noch, effizientere Waffen als die meisten anderen Völker, mit denen man Kontakt gesucht hatte. Selbst die Sa'tianker waren an ihren Waffen interessiert gewesen, ebenso wie an dem Jumper.
Wenn sie all das anführten, wenn sie den anderen klar machten, daß sie es ernst meinten ...
Vashtu blickte wieder auf den Bildschirm vor sich.
Es wäre einen Versuch wert. Offensichtlich waren die neuen Bewohner Vinetas in der Lage, nicht nur zu beißen, sondern zu vernichten. Wenn sie das in einem Handel ins Feld führten, wenn sie ihren Auftritt änderten und härter wurden, würden sie vielleicht auch mehr Verbündete und Handelspartner finden.
Die Tür öffnete sich.
Vashtu riß sich aus ihren Gedanken, richtete sich wieder auf. Ein Lächeln glitt über ihr Gesicht, als sie den Asgard erkannte, der in das Büro trat und sich mit großen Augen umsah.
Heimdahl, schön, dich zu sehen", begrüßte sie ihn.
Das schmächtige, kleine und grauhäutige Wesen trat vertraulich näher. Seinen großen, ausdrucksvollen Augen lag das Lächeln, das sein Gesicht nicht auszudrücken vermochte. „Ich habe sehr gut geschlafen und würde jetzt gern mit meiner Arbeit beginnen, Major Uruhk", sagte er in der typischen, emotionslosen Weise seiner Art. „Ich habe ..."
Du solltest dich noch ein bißchen ausruhen", widersprach Vashtu sofort, blickte wieder auf den Bildschirm und öffnete die nächste Datei. „Im Moment gibt es leider noch recht wenig für dich zu tun. Aber das wird sich sicher schnell ändern. Ich habe Dorn angewiesen, uns die Forschungen von Dr. Babbis zur Verfügung zu stellen und herzuholen. Wir beide können erst einmal nicht dieses Gebäude verlassen, ehe der Schutzschild nicht hochgefahren ist und ich ihn modifiziert habe." Ein entschuldigendes Lächeln trat auf ihr Gesicht.
Ich könnte auch das eine oder andere lernen", schlug Heimdahl vor. „Wenn ich einen Zugang zu den Rechnern bekomme. Ich beherrsche deine Sprache, Major Uruhk."
Vashtu nickte, öffnete die nächste Datei. „Das weiß ich. Die meisten Asgard können antikisch, und das fast so gut wie ..." Sie stockte, als sie ein leises Geräusch wahrnahm. Ihr Kopf ruckte automatisch herum.
Unwillkürlich sprang sie auf, als sie den Asgard beim Hauptrechner des militärischen Sektors stehen sah, wie er offensichtlich mittels der Kristalle einige Eingaben vornahm. „Heimdahl!" entfuhr es ihr entsetzt. Mit schnellen Schritten war sie bei ihm.
Der Asgard hatte den Kopf leicht zur Seite geneigt und las offensichtlich, was da gerade über den Bildschirm flimmerte.
Vashtu mußte sich bezwingen, um ihn nicht von dem Panel wegzureißen.
Sie war hier nicht die Verantwortliche, verdammt! Sie war im Moment nicht mehr als ein Flüchtling, noch dazu eine Fahnenflüchtige. Sie sollte froh sein, daß Stross ihr dieses Büro ...
Vashtus Augen wurden groß, als ihre Augen an einer bestimmten Eintragung hängenblieben. „Das gibt's doch nicht!" entfuhr es ihr, dann wechselte sie einen langen Blick mit dem Asgard. Doch Heimdahl schien nicht wirklich zu verstehen, worüber er da gerade gestolpert war. Voller Vertrauen zwinkerte er ihr zu.
Und in diesem Moment öffnete sich die Tür zu dem großen Büro noch einmal, und Dr. Stross trat ein. „Wir sind ... Major? Heimdahl!"
Vashtu hob abwehrend die Rechte, scrollte gedanklich weiter herunter. Unwillkürlich bewegte sich ihr Kopf mit dem Text, während ihre Augen noch immer geweitet waren.
Was ist los, Major?" Stross trat näher, warf einen kurzen Blick auf den Bildschirm. Dann stutzte auch sie. „Das ist ..."
Das sind die vollständigen Auflistungen über alle Forschungen, die in Vineta durchgeführt wurden!" Vashtus Stimme klang wie aus weiter Ferne.

***

Eine Stunde später verließ die Antikerin, in einer deutlichen Hochstimmung, den Lift auf einer anderen Etage.
Endlich würde sie Antworten auf ihre dringenste Fragen erhalten: Wie gefährlich waren die tatsächlich durchgeführten Forschungen in Vineta wirklich gewesen? Gab es noch anderes, das sich, wie die Devi, zu einem Bummerang entwickeln konnte, rührten sie es an? Und, vielleicht auch, was hatte ihr Vater in der Stadt getan, ehe es hier zu was auch immer gekommen war?
Doch zunächst einmal wollte sie sich ansehen, was Peter angerichtet hatte während der letzten vierzehn Tage. Stross war zu ihr gekommen, um ihr mitzuteilen, daß Dorn sämtliche Forschungen und seine Ergebnisse hierher gebracht hatte, in das abgeschirmte Gebäude der militärischen Leitung. Zwar hatte Peter sich ein anderes, ebenfalls abgeschirmtes Gebäude für seine Forschungen gesucht, aber es gab dort keinen Lift, so daß sie sich der Gefahr ausgesetzt hätte, von den Scannern der Prometheus entdeckt zu werden, hätte sie es gewagt, die Zentrale zu verlassen.
Hoffentlich würde sich dieser Umstand bald beheben lassen. Zumindest aber in absehbarer Zeit.
Vashtu seufzte schwer, öffnete dann die Tür zu dem leerstehenden Büro in einem der unteren Etagen.
Wenn es nach ihr gegangen wäre, sie hätte die weiteren Forschungen auch in ihrer jetzigen Unterkunft weiter betreiben können, zumindest vom Platz her war das Büro des militärischen Leiters  mehr als verschwenderisch und nahm über die Hälfte des obersten Stockwerkes ein. Sie wunderte sich allerdings, daß Dorn, der ja militärischer Leiter in Vineta war, diesen Raum nicht für sich selbst beanspruchte, sondern sich, laut Stross, mit einem wesentlich kleineren zufrieden gab.
Vashtu trat ein, den Blick schon fest auf das gerichtet, was sich vor ihr auf dem großen Schreibtisch ausbreitete.
Sehr gut, sobald sie Peters Daten gelesen hatte, würde sie weitermachen können und vielleicht auch schon Fortschritte erzielen, ehe er morgen oder übermorgen zurückkehrte an die Arbeit. Endlich wieder etwas sinnvolles tun statt sich mit Marschgepäck durch die Gegend scheuchen zu lassen!
Kleines?"
Vashtu erstarrte mitten im Schritt und atmete einige Male tief ein. Ihr Herzschlag hatte sich unwillkürlich beschleunigt, als sie die Stimme gehört hatte. Dann aber erkannte sie sie auch und drehte sich langsam um.
Der Marine saß in seinem Rollstuhl neben der Tür und blickte sie amüsiert an. „Kann dich noch immer erschrecken, was?"
Auf Vashtus Gesicht erschien ein Lächeln. Sie ließ den Schreibtisch und trat zu ihrem ehemaligen Teammitglied. „George, wie geht es dir?" fragte sie, beugte sich zu ihm hinunter.
Dorn nickte mit geschürzten Lippen. Die Wärme in seinem Blick blieb, doch das Schmunzeln erlosch. „Ich wollte dich noch etwas fragen, ehe ich wieder an meine Arbeit gehe", begann er.
Vashtu nickte ernst. „Etwas schlimmes?"
Dorn schürzte wieder die Lippen, nickte dann zu einem kleineren Tisch hinüber. „Babbis hatte mir versprochen, eine Prothese anzufertigen für mein Bein", sagte er.
Vashtu wandte stirnrunzelnd den Kopf, richtete sich wieder auf und trat an den zweiten Tisch. Was darauf lag sah für sie allerdings nach allem anderen als nach einer Beinprothese aus. Eher wirkte es wie moderne Kunst. Vorsichtig griff sie danach und hob es hoch. Dann schüttelte sie den Kopf. „Peter muß wirklich sehr übermüdet sein", seufzte sie.
Kannst du es richten?" Dorn war langsam an ihre Seite gefahren, sah jetzt wieder zu ihr auf. „Habe allmählich Schwielen am Hintern von dem ganzen Sitzen."
Vashtu lächelte gequält, nickte dann aber. „Komm heute abend wieder vorbei, dann passe ich sie dir an. Einverstanden?" Sie warf ihm einen fragenden Blick zu und sah, wie seine Augen zu leuchten begannen. „Aber besorg dir Krücken, George. Ohne die wird es nicht gehen. Besser für die erste Zeit zwei."
Das Lächeln erlosch, Begreifen trat statt dessen in seine Augen. Doch tapfer nickte er. „Gehe zu diesem Boyer. Netter Kerl", sagte er in seiner gewohnt einsilbigen Art.
Tu das. Er wird dir vielleicht auch helfen können beim Laufen lernen."
Wieder musterte sie die Metallstangen, die Babbis irgendwie verschraubt hatte ohne auf die Anatomie des menschlichen Körpers zu achten. „Wird nicht sonderlich hübsch aussehen. Aber der praktische Nutzen ist im Moment höher, oder?"
Dorn berührte sie am Arm, ließ sie wieder den Kopf drehen und ihn forschend betrachten.
Ich danke dir, Kleine ... Major", sagte der Marine mit Tränen in den Augen.
Vashtu nickte mit zusammengekniffenen Lippen. Auch sie fühlte eine gewisse feuchte Wärme in ihren Augen, doch sie würde die Tränen nicht fließen lassen.
Dann sollte ich jetzt besser anfangen." Entschlossen wandte sie sich dem Tisch zu und begann, die ersten Verschraubungen zu lösen. Dennoch spürte sie genau, wann Dorn sie endlich allein ließ und atmete leise auf.

TBC ...

05.02.2012

2.07 Kalter Entzug


Jetzt:
Es war ein beruhigendes Gefühl, die Stadt in der gewaltigen Höhle so zu sehen wie jetzt: Beleuchtet und mit zumindest ansatzweise Leben erfüllt. Die hohen Türme des zentralen Komplexes strömten in ihren Augen eine eigenartige Behaglichkeit aus, die sie an ihre Heimat erinnerten, die so weit entfernt war.
Major Vashtu Uruhk stand an den großen Fenstern der militärischen Kommandozentrale in einem, selbst in ihren Augen, gewaltigen Büro, das bisher nicht genutzt wurde. Die Arme überkreuzt blickte sie auf die Stadt hinunter. Und wieder, wie schon bei ihrem letzten Besuch hier, hatte sie das Gefühl, endlich zu irgendetwas zu gehören, nach Hause gekommen zu sein.
Nun ja, hoffentlich würde dieser „Ausflug" länger dauern als der letzte. Zumindest wenn es nach ihr ging. Und genau darum hatte sie sich auch in diesem Gebäude verschanzt, ebenso wie sie auch den Asgard Heimdahl hier untergebracht hatte.
Colonel Pendergast hätte sie nie im Leben wieder gehen lassen, und das wußte sie auch nach den Erfahrungen der letzten zwei Erdenwochen. Sie konnte zwar nicht sagen wie und warum, aber sie hatte das sichere Gefühl, er ahnte zumindest, daß sie mehr war, als sie ihn hatte wissen lassen. Es waren merkwürdige, nur teilweise in ihrer Erinnerung gespeicherte zwei Wochen. An andere Dinge entsann sie sich dagegen nur allzu gut: die begonnenen Gespräche, die eigenartigen Anweisungen, das Training. All das hatte ihr mehr als deutlich verraten, daß der Colonel, den sie eigentlich als vorgesetzten Offizier betrachten und seinen Befehlen folgen mußte, irgendetwas wenigstens ahnte, wenn er es nicht über irgendwelche dunklen und für sie nicht einsehbaren Kanäle tatsächlich herausgefunden hatte.
Ihr war keine andere Wahl mehr geblieben, wollte sie in Vineta, und in der Reichweite eines Sternentores bleiben. Und sie hatte fest damit gerechnet, daß Dr. Peter Babbis es in dieser Zeit zumindest geschafft hatte, den Schutzschild irgendwie mit Energie zu versorgen.
Doch als sie gestern am Abend angekommen war, hatte sie erfahren müssen, daß der junge Wissenschaftler sich gründlich überschätzt und verzettelt hatte. Ihr war keine andere Wahl geblieben, als sich so schnell wie möglich in einem abgeschirmten Gebäude zu verstecken, damit man ihr nicht nachjagen und das Geheimnis der Stadt unter der Planetenoberfläche lüften konnte.
Die Tür hinter ihr öffnete sich mit einem leisen, kaum wahrnehmbaren Zischen. Vashtu beobachtete in den spiegelnden Fenstern die Silhouette der Eintretenden, straffte sich und atmete tief ein.
Ich hoffe, Sie haben gut geschlafen, Major", begrüßte Dr. Anne Stross sie im freundlichen Ton.
Vashtu zögerte noch einen Moment, dann drehte sie sich um und lächelte. „Klar." Sie zwinkerte.
Stross nickte, stellte einen abgedeckten Teller auf dem großen Schreibtisch ab. „Ich hoffe, wir werden das Problem bald lösen können. Wenn ich auch nicht weiß, wie Sie den Schild dazu bringen wollen, Ihre ID nicht durchzulassen."
Das ist die leichteste Übung, glauben Sie mir." Vashtu warf dem Teller einen halben Blick zu, verzog leicht angewidert das Gesicht. „Noch immer keine sinnvollen Handelspartner in Aussicht?" fragte sie.
Stross sah sie mit einem leicht resignierten Gesichtsausdruck an. „Wir hoffen, daß sich das bald ändern wird. Markham und die Erethianer sind ja gestern auch zurückgekommen." Sie lehnte sich gegen den Schreibtisch und blickte sie offen an. „Danea hat um eine Unterredung gebeten. Er meinte, er hätte sehr gute Neuigkeiten. Und was der Lieutenant über den Mond erzählt hat während der Expedition läßt mich hoffen. Sieht aus, als hätten wir zumindest eine Farm, und die ist nicht klein."
Vashtu nickte nachdenklich. „Aber wir haben nur einen Sack Saatgut", entgegnete sie. „Das wird für einen Farmplaneten nicht reichen, selbst wenn der nur ein Mond ist."
Aber wir haben Hoffnung. Sergeant Williams ist mit seinem Team auf einem Planeten über Nacht geblieben. Und, soweit er mir vorhin sagen konnte, sieht es mit einer Handelsbeziehung gar nicht so schlecht aus. Die Omanier, so nennen sich die Bewohner von P1V-121, sind reichlich ausgedünnt worden durch die Devi und froh über jede helfende Hand, die sie kriegen können."
Und sonst?" Vashtu hob fragend die Brauen. „Einmal abgesehen von dem Chaos, das Peter angerichtet hat? Ich meine ..."
Stross hob eine Hand. „Sie sind doch noch gar nicht richtig angekommen, Major", entgegnete sie amüsiert.
Vashtu runzelte die Stirn. „Ich bin seit gestern abend hier. Zeit genug, um mich auszuruhen und mir die Berichte anzusehen", sagte sie im bestimmten Tonfall. „Und was ich gelesen habe, hört sich bisher nicht allzu gut an. Die Menschen dieser Galaxie sind ziemlich mißtrauisch und schnell mit ihren Waffen zur Hand, viel zu schnell für meinen Geschmack. Außerdem scheinen die Devi ein ziemlich gewichtiges Problem darzustellen. Bisher ist nicht eine Welt betreten worden, die nicht von ihnen heimgesucht würde."
Aber wir haben bisher keine andere Stadt gefunden, zumindest keine, die noch bewohnt wäre", wandte Stross ein.
Noch nicht. Wieviele Welten haben Sie inzwischen erforscht? Zehn? Elf?" Vashtu schüttelte bedauernd den Kopf. „Soviel wußten wir bereits von den Erethianern. Und wenn Sie nachts einmal die Höhle verlassen, können Sie mehr Sterne sehen, als Sie zählen können. Die Gefahr ist nicht kleiner geworden." Sie seufzte. „Vielleicht hätte ich gar nicht zurückkommen sollen." Mutlos sanken ihre Schultern herab.
Sie sind hier wichtig, Major! Und Sie sind jederzeit mehr als herzlich willkommen in Vineta!" Stross richtete sich wieder auf und funkelte sie an. „Sie haben bis jetzt mehr für diese Stadt getan als jeder andere. Wie könnte ich Ihnen da irgendeinen Vorwurf machen? Wofür denn überhaupt?"
Vashtu blickte unter ihren Ponyfransen wieder auf. „Im militärischen Sinne habe ich gestern abend eine Fahnenflucht begangen", sagte sie sehr ernst. „Ich habe mich Pendergasts Einflußbereich entzogen. Mit Hilfe, das gebe ich zu, aber ich habe es getan."
Sie sind vor einem Irren geflohen, der im Moment noch am längeren Hebel sitzt, Major! Und, wenn Sie mich fragen, ich habe mich gewundert, wieviel Sie sich bis jetzt von Pendergast haben gefallen lassen. Er hat Sie verhört, Sie von allen anderen abgekanzelt und dann abgesondert, besonders von Ihrem Team, Ihnen sogar das Fliegen verboten und die F-302 wieder weggenommen, die er Ihnen erst zugesprochen hat. Was haben Sie denn das letzte Mal für Kämpfe mit ihm ausfechten müssen, damit er Sie noch einmal hier herunter ließ? Was haben wir für Kämpfe mit ihm ausfechten müssen deswegen?"
Vashtu biß sich auf die Lippen, drehte den Kopf und sah wieder zu den großen Fenstern hinaus.
Barnes hat Ihnen geholfen, das haben Sie mir gestern gesagt", fuhr Stross fort, ließ sich gar nicht stören von ihrem offensichtlichen Desinteresse. „Major Barnes ist ein erfahrener Mann und hat schon einige Kriege hinter sich. Denken Sie denn wirklich, er hätte sich auf ein so riskantes Spiel eingelassen, wenn er nicht denken würde, Sie wären anderswo besser aufgehoben? Was, wenn Pendergast von Ihrem veränderten Genom erfährt? Er weiß doch ohnehin bereits, daß Sie eine Lantianerin sind!"
Vashtu versteifte sich unwillkürlich bei den letzten Worten.
Nein, das wollte sie auf gar keinen Fall herausfinden! Niemals sollte Pendergast erfahren, was wirklich in ihr steckte. Sie kannte die Reaktionen der meisten Militärs ohnehin schon mehr als gut: Der perfekte Krieger! Die Kampfmaschine!
Wieder biß sie sich auf die Lippen, begann dann an ihrer Unterlippe zu nagen.
Wenn der Colonel jemals herausfinden sollte, was mit ihr nicht stimmte, würde er sehr schwere Geschütze auffahren, um sie wieder zurück auf die Prometheus zu holen, und das wußte sie. Die Dimension, aus der Pendergast und die Atlanter stammten, war anders als die Erde, die sie kannte. Und, soviel hatte sie inzwischen herausgefunden, etwas, wie es ihm vielleicht vorschweben würde für sie, war laut den Direktiven vielleicht sogar erlaubt. Sie mit irgendetwas zu brechen und zu einem Werkzeug zu machen. Einem Werkzeug, wie sie es schon einmal gewesen war, und wie sie es niemals wieder sein wollte.
Vashtu schloß die Augen und drängte die Erinnerungen zurück. Jetzt waren andere Dinge wichtiger, viel wichtiger. Und an allererster Stelle stand der Erhalt der Stadt und das Überleben ihrer Bewohner. Und dazu würden sie Nahrung brauchen, vor allem Nahrung! Um Pendergast konnte sie sich immer noch kümmern, wenn er sich wieder meldete - sofern er das nicht schon getan hatte.
Ich möchte, daß Sie mithelfen, Major. Ich möchte, daß Sie eine Stimme hier sind, so wie jeder Bewohner Vinetas eine Stimme ist. Auf keinen Fall möchte ich Sie in irgendeiner Weise benutzen. Und ich hoffe, inzwischen wissen Sie das auch", sagte Stross mit sanfter Stimme.
Vashtu öffnete die Augen wieder. Um einen Mundwinkel zuckte ein kleines Lächeln, als sie sich zu der anderen umdrehte und nickte. „Geht klar, Doc", sagte sie in einem lockereren Ton, als ihr zumute war.
Stross warf ihr einen fragenden Blick zu, doch sie reagierte nicht darauf. Sie hatte anderes, wichtigeres, zu tun.

***

15 Tage vor der Rückkehr:
Major, ich bin überrascht. Wirklich überrascht! Sie können also doch auch einmal pünktlich sein."
Vashtu, die gerade aus ihrem Jumper gekommen war, verharrte mitten im Schritt, zwang sich, sich gerade und aufrecht hinzustellen und salutierte so stramm wie möglich. „Sir, melde mich zurück auf der Prometheus, wie abgesprochen."
Pendergast trat näher, nickte ihr mit kalten Augen zu. „Stehen Sie bequem, Major Uruhk", sagte er jovial.
Vashtu kam seiner Aufforderung sofort nach. Nicht, daß sie das militärische bequeme Stehen als wirklich bequem empfand. Aber sie wußte durchaus, was geschehen würde, sollte sie sich auch nur den kleinsten Fehler leisten.
Während sie auf weitere Anweisungen und Verhöhnungen wartete, beides würde mit absoluter Sicherheit kommen, so wie sie Pendergast kannte, ging ihr auf, daß er seinen üblichen Rattenschwanz aus Marines nicht mit sich herumschleifte. Statt der mindestens drei Männer hatte den Colonel heute nur einer begleitet. Einer allerdings, der ihr ebenfalls in alles andere als guter Erinnerung geblieben war: Sergeant Bates, der ihr die neue Kombination verpaßt hatte, die vorn und hinten nicht passen wollte.
Nun, wie war es dort unten bei den Wissenschaftlern, Major?" wandte Pendergast sich wieder an sie. „Sind Sie nicht froh, wieder hier oben im richtigen Leben zu sein?"
Vashtu schluckte die Antwort, die ihr auf der Zunge lag, hinunter. Nein, diese würde sie ganz sicher nicht aussprechen. Allerdings blieb die Frage, was für den Colonel das wirkliche Leben war. In ihren Augen war Vineta ein gutes Stück näher an dieser Bezeichnung als die Prometheus es je wieder sein würde.
Aber Pendergast wußte weder etwas von Vineta noch von dem Sternentor, das sie irgendwie zumindest halbwegs geflickt hatte, auch wenn sie persönlich eher glaubte, es wäre besser, sie würden das Tor austauschen. Aber solange sie noch keinen leeren Planeten gefunden hatten ...
Vashtu riß sich aus ihren Gedanken. Sie war nicht mehr auf Erethia, sie war auf der Prometheus und mußte ein Schmierentheater aufführen, um Pendergast in Sicherheit zu wiegen. Auf keinen Fall durfte er Wind davon bekommen, was auf dem Planeten tatsächlich vor sich ging. Würde er es jemals herausfinden, würde keiner der neuen Bewohner der verbotenen Stadt ihres Volkes noch sonderlich viel Freude an Vineta haben.
Ja, Sir", antwortete sie deshalb, warf sich in die Brust. „Bereit für neue Befehle, Sir."
Pendergast war vor ihr stehengeblieben und sah ihr tief in die Augen. Das tat er gern, wirklich sehr gern, war ihr schon einige Male aufgefallen. Was er allerdings glaubte, in ihren Augen lesen zu können, hatte sie noch nicht herausfinden können.
Dann wird es Sie sicherlich freuen, daß ich mich entschlossen habe, den Kontakt zum Planeten abzubrechen. Sobald der Hyperantrieb repariert ist, sind wir weg, Major. Und Sie werden uns begleiten."
Vashtu fühlte, wie ihr schlagartig das Blut aus dem Gesicht wich.
Den Kontakt zum Planeten abbrechen? Den Hyperantrieb reparieren? Wußte dieser Idiot eigentlich, was er da sagte?
Pendergast grinste sie an, auf eine wölfische, gierige Art, die ihr überhaupt nicht gefallen wollte. Und ihr war sofort klar, daß ihre Reaktion mehr verraten hatte als sie gewollt hatte. Der Colonel wußte, daß sie gelogen hatte. Sicherlich hatte er das schon vorher gewußt, aber jetzt konnte er sich sicher sein, das es so war. Und daraus konnte er möglicherweise einen Hebel bauen, der sie auflaufen lassen würde.
Das ist ... ein guter Gedanke, Sir", antwortete sie deshalb, auch wenn sie wußte, er würde diese Worte als die glatte Lüge bewerten, die sie auch tatsächlich war.
Nun, dann hoffe ich, wir werden in den nächsten Tagen aufbrechen können." Pendergast wandte sich ab und schritt zurück zum Schott. Dann blieb er plötzlich, auf einer Höhe mit Bates, stehen, wechselte einen Blick mit dem Sergeant und drehte sich wieder zu ihr um. „Bates wird Sie zu Ihrem Quartier begleiten, Major, und Ihnen ein wenig Gesellschaft leisten. Sicher werden Sie Hunger haben, man wird Ihnen etwas bringen", erklärte er. Der Marine neben ihm nickte pflichtbewußt.
Vashtu fühlte sich mit einem Mal verraten, wenn sie auch nicht wußte, warum. Sie hatte nur das sichere Gefühl, daß all das hier von Anfang an inzeniert gewesen war und sie sich gerade in einem Netz fing, aus dem sie vielleicht nicht wieder herauskommen würde.
Morgen um Null-Siebenhundert werden wir Ihren ausstehenden Leistungstest beginnen, Major. Kommen Sie ausgeruht", fuhr Pendergast fort.
Vashtu blinzelte. „Leistungstest, Sir?" fragte sie, hätte sich dann selbst ohrfeigen können. Der Colonel haßte Widerworte und Nachfragen. Und sie wußte das nur zu gut, hatte  ihr beides bisher mehr als genug Ärger eingebracht.
Pendergast trat wieder einige Schritte näher, blieb dann aber stehen. „Ja, Major, Leistungstests", antwortete er mit einem schneidenden Unterton in der Stimme. „Sagen wir, in einigen Berichten wurde etwas ... eigenartig über Sie geschrieben und ich möchte jetzt endlich Gewißheit. Sergeant, begleiten Sie den Major auf ihr Quartier."
Der Marine salutierte und marschierte mit strammen Schritten zu ihr. „Mam?"
Vashtu sah Pendergast nach, der den Hangar nun endgültig verließ. Sie wußte, was er möglicherweise in den Berichten gefunden hatte, und sie wußte, auf was diese Berichte sich bezogen: Auf ihre erste Expedition nach Erethia, nachdem die größten Brände ausgebrannt waren. Einer der Marines schien nicht dichtgehalten zu haben.
Vashtu biß sich auf die Lippen, ging dann an Bates vorbei und trat vor das Schott, das sich hinter dem Colonel wieder geschlossen hatte. Einen Moment lang überlegte sie wirklich, ob sie den Sergeant nicht einfach vor das Tor laufen lassen und selbst wieder verschwinden sollte. Dann aber entschied sie sich. Es war besser, sich erst einmal zu fügen. Vielleicht würde sie auf diese Weise herausfinden, was Pendergast zu ahnen glaubte und wie dicht diese Ahnung an die Realität herankam.

TBC ...